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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jordi Punti
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die Nähe von Schwester Elisa kamen und auf ihre Vermutung anspielen wollten (was ihnen ein wertvolles Gefühl der Überlegenheit gegenüber den anderen Kindern gab), raunten sie: »Ho-ho-ho und ’ne Buddel Rum.«
    Wir vier Christofs, jeder bei sich zu Hause und in verschiedenen Nächten, hörten von der schrecklichen Nonne, ohne viel zu verstehen. Der Vater, dem nicht klar war, wie viel Angst er uns einjagte, erzählte von ihr, wenn er uns zu Bett brachte. Beim Einschlafen trugen uns dann die Schauer der Furcht bis in die Schlafsäle der Casa de la Caritat. Wir wälzten uns schweißgebadet, strampelten Decke und Laken weg, und wenn wir dann verwirrt auffuhren und noch zwischen Traum und Wachsein hingen, dann beruhigte uns die Gewissheit, dass im selben Saal wie wir auch der Vater schlief. Er würde uns beistehen, wenn die hinkende Nonne an unser Bett träte.
    Nachdem der Vater sich endgültig aus unseren Leben verzogen hatte, blieb das Holzbein dennoch in unserer Fantasie gegenwärtig und ist es bis heute geblieben. Nicht mehr so furchteinflößend wie früher, aber noch immer sehr beeindruckend – und symbolkräftig wie eine Devotionalie. Auch das haben wir vier gemeinsam.
    Vor einigen Jahren sprach Papst Johannes Paul II. bei einem dieser Massengottesdienste im Vatikan einen ganzen Schwung Märtyrernonnen selig, unter ihnen Schwester Elisa von der Casa de la Caritat. Damit war auf einmal ein Teil des Geheimnisses enthüllt. Sie verlor ihr Bein, als das Kloster Sankt Hieronymus in Barcelona in Brand stand und sie versuchte, ein paar Anarchisten daran zu hindern, ein Kruzifix fortzuschleppen und zu schänden. Inmitten der Flammen und des dichten Qualms löste sich ein Holzbalken aus dem Dachstuhl der Kirche und zerschmetterte ihr das Bein. Die Anarchisten hielten sie für tot und ließen sie liegen, doch als sie wieder zu sich kam, half ihr eine göttliche Kraft, einige Meter weit zu kriechen und Hilfe herbeizurufen.
    Wir wissen nicht, ob unser Vater von der Seligsprechung weiß, doch sicher dachten Hunderte von ehemaligen Heimkindern aus der Casa de la Caritat, als sie davon lasen oder den Bericht in den Fernsehnachrichten sahen, sofort lebhaft und mit einem Anflug von schlechtem Gewissen zurück an die Schreckensmomente und die nächtelangen Spinnereien, die diese hinkende, schweigsame und traurige Frau bei ihnen ausgelöst hatte. Wir sind außerdem überzeugt, dass unser Vater, wo immer er nun sei, eine Angewohnheit aus jener Zeit weiter beibehält. Oft sagte er, wie es ja viele Leute tun, mitten in einer Unterhaltung: »Klopfen wir auf Holz«, um den Gedanken, dass etwas schiefgehen könnte, zu verscheuchen. Und dabei pochte er sich unweigerlich zwei- oder dreimal gegen das rechte Bein.
    An seinen gesprächigeren Tagen erzählte er unseren Müttern noch andere Geschichten aus der Casa de la Caritat. Zumeist Anekdoten über kindliche Aufmüpfigkeit, Waisenhausabenteuer, die auf einen versohlten Hintern oder einen Löffel Rizinusöl hinausliefen. Die Mütter lauschten und wurden von Mitleid ergriffen, und wenn sie ein zweifelndes Gesicht machten, sagte er ihnen: »Du glaubst mir nicht? Na, frag doch Bundó, der war auch dabei.«
    Wenn Bundó und Petroli den Vater abholen kamen (je nach Zeitplan blieben sie auch mal zum Frühstück oder Abendbrot), nutzten die Mütter die Gelegenheit, um bei dem Kampfgefährten nachzubohren. Sie wollten wissen, ob er je das Holzbein der Nonne erblickt habe, oder baten um seine Version von den Ausflügen, die der Vater und er angeblich unternommen hatten, indem sie sich durch einen Abflussschacht beim Schulhaus zwängten und dann stundenlang durch die Kanalisation von Barcelona liefen, bis sie im Luftschutzbunker im Carrer Fraternitat landeten. Soll man ernstlich glauben, fragten die Mütter, dass im Untergrund der Stadt noch immer, seit den Kriegsjahren, Dutzende Menschen versteckt leben, die mittlerweile blind wie Maulwürfe sind, weil sie nie Tageslicht sehen? Bundó hörte ihnen lächelnd zu und blickte sich ab und zu nach dem Vater um, vielleicht weil er die Sprache nicht gut verstand. Am Ende aber bestätigte er jedes Mal die Wahrhaftigkeit der Schilderungen mit einem geradezu wissenschaftlich-ernsten Gesichtsausdruck, wie ein Dr. Watson, der die Abenteuer seines Sherlock Holmes bezeugt.
    Vielleicht weil er ein paar Monate später als Gabriel im Waisenhaus ankam, hatte Bundó unseren Vater dort immer als seinen großen Bruder betrachtet. Sein voller Name war Serafí Bundó

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