Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
noch davon berichten. Bundó hingegen zog die ganz flüchtigen Begegnungen vor und pflegte Umgang mit dreißig, vierzig, fünfzig Frauen in diversen Landstraßenbordellen in Frankreich, Deutschland und Spanien – er kannte sie alle –, bis er eines Tages damit aufhörte, weil ihm ein Mädchen nicht mehr aus dem Kopf ging (auch darauf werden wir zurückkommen).
Andererseits spricht einiges dafür, dass sie beide die Neigung, nichts anbrennen zu lassen (entschuldigt bitte, liebe Mütter), in der Jugend gemeinsam entwickelt hatten. Waren sie schon als Kinder große Fabulierer gewesen, sei es, um sich bei den Größeren Respekt zu verschaffen, sei es, um einander zu decken, wenn die Ordensschwestern sie einer Untat verdächtigten, so trieb diese Kunst noch erstaunlichere Blüten, als sie etwa dreizehn Jahre alt und den ersten sexuellen Wallungen ausgesetzt waren.
»Diese Woche bist du dran«, sagte Bundó.
»Schon klar. Du kriegst sie morgen Abend. Ich schreibe sie in der Mathe-Wiederholungsstunde. Mit wem soll sie diesmal sein?«
»Ganz egal, ich finde es besser, wenn ich es nicht vorher weiß. Oder doch: Sophia Loren.«
»Wer?«
»Sophia Loren oder wie sie heißt. Die auf den Plakaten vor dem Kino Tivoli, die Italienerin mit Titten wie Wasserkrügen. Erzähl mir nicht, dass du dich nicht erinnerst … Oder sonst nimm halt Carmen Sevilla. Oder beide auf einmal, das könnte doch lustig sein. Aber reg dich bitte nicht zu sehr auf dabei – wenn du dich aufregst, kriegst du so eine Sauklaue, dass es kein Mensch mehr lesen kann.«
Eigentlich war Gabriel derjenige, der immer langsam und sorgfältig schrieb und darauf achtete, dass die Zeilen gerade blieben, aber er widersprach nicht, denn er wusste aus eigener Erfahrung, wie wichtig ein sauberes Schriftbild war. Ein missratenes Wort, ein über die Seite verschmierter Tintenklecks, und schon verlor man aufs Fatalste den Faden.
Die Vertraulichkeit zwischen den Freunden hatte ihre Krönung in einem Pakt gefunden, der ihnen regelmäßig die Fantasie und noch anderes durchschüttelte: Woche für Woche tauschten sie eine erotische Kurzgeschichte aus, mit dem je anderen als Helden. Eine vorn und hinten beschriebene Heftseite, auf der ein bisschen Rand gelassen war, reichte aus. Gabriel zeigte sich bodenständig und wollte stets, dass in den Geschichten, die Bundó für ihn schrieb, die Mädchen aus der Casa de la Caritat vorkamen. Sie bewohnten einen anderen Teil des riesigen Gebäudes, und man bekam sie kaum je zu Gesicht. Aber gerade dieses Zusammenleben auf Distanz konnte besonders erregend wirken. Gabriel verlangte leicht zu merkende Namen und glaubhafte Details, um sich den Mädchen nah zu fühlen. Bundó war träumerischer, er zog Kinodiven und exotische Szenarien vor. Mit der Zeit lernten beide, die Vorlieben ihres einzigen Lesers perfekt zu erfüllen.
Anfangs beschwerte sich Gabriel, Bundós Geschichten seien zu wenig leidenschaftlich und zu beschreibend. Was interessierte es ihn, ob auf dem Nachttisch eines Mädchens mit blondem Haar, blauen Augen und schneeweißer Haut ein Messbuch, ein mit Initialen besticktes Taschentuch sowie ein gerahmtes Bild der toten Eltern zusammen auf einem Spitzendeckchen lagen? Er brannte darauf, zu erfahren, was unter der Decke dieses Bettes geschah.
Die erste Geschichte, die er selbst für Bundó schrieb, geriet sehr lang, hatte zu viel Schwulst und zu wenig Fleisch, und der Held war ein gewisser Serafín. Bundó las sie auf der Toilette, wobei ihn eine neuartige Erregung am ganzen Körper zittern ließ. Doch obschon die dem Helden zugeschriebenen unerhörten sexuellen Fähigkeiten ihn sofort in Wallung brachten, erkannte er sich in der Figur nicht wirklich wieder. Vielleicht erschwerte es ihm die Identifikation, dass auch einer der Lehrer im Heim Serafín hieß. Gleich am nächsten Morgen forderte er, der Protagonist solle künftig schlicht als Bundó geführt werden. Gabriel tat ihm den Gefallen, und Bundó kam sich dann unter diesem Nachnamen so gut beschrieben und erfasst vor, dass er den Serafí oder Serafín für alle Zukunft aus seinem Leben strich. Nur die Nonnen nannten ihn natürlich weiterhin so; wenn Muttergefühle sie überkamen, sogar Serafinín.
Nach vier, fünf Versuchen wurden die Geschichten runder. Sie hatten beide ein Händchen dafür. Sie schrieben sie nicht auf Katalanisch, sondern auf Spanisch, denn das schien ihnen die erwachsenere und perversere Sprache. Das Risiko, bei einer der heimlichen Übergaben
Weitere Kostenlose Bücher