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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jordi Punti
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Ventosa. Er kam aus einem Dorf im Penedés, und man kann sagen, dass er ein unvollständiger Waise war. Am Tag, als er zur Welt kam, ermordete das Franco-Regime seinen Vater. Die nicht ganz zufälligen Zufälle des Lebens. Sieben Monate schon wartete der Mann im Gefängnis in Barcelona auf den tödlichen Moment, angeklagt und verurteilt wegen Vaterlandsverrats und wegen des Versuchs, unerlaubt die Grenze zu übertreten; und ausgerechnet an diesem Tag im Morgengrauen musste es so weit sein. Wenn Bundó sarkastisch war, sagte er, er habe seinen ersten Schrei in dieser Welt im selben Augenblick ausgestoßen wie sein Vater seinen letzten, vor dem Erschießungskommando. Damit ihr nicht die Milch versiegte, hielten die Krankenschwestern in der Geburtsklinik von El Vendrell die Nachricht eine Woche lang vor der Mutter geheim, aber schließlich mussten sie es ihr sagen, die Behörden bestanden darauf. Ihr Kind im Arm, erfuhr die junge Frau vom Tod ihres Mannes und weinte keine Träne. Sie wiegte nur das Neugeborene hin und her, ohne Unterbrechung und mit unbewegter Miene. Monate zuvor, als sie ihn im Gefängnis besucht hatte, hatten sie und ihr Mann ein wenig Trost darin gefunden, zusammen einen Namen für den Kleinen auszuwählen. Es war eine Art, gegen alle Wahrscheinlichkeit gemeinsam die Zukunft zu planen. In der Geburtsklinik überlegte sie es sich anders und entschied, der Junge solle Serafí heißen, so wie sein Vater.
    Dann wurde sie wahnsinnig.
    Nach einigen Tagen, als sie schon wieder zu Hause war, begann sie mit dem Baby zu reden wie mit einem Erwachsenen. Als wäre das Leben ein Teufelskreis, hatte sich bei ihr das Gehirn verdreht, und sie war überzeugt, dieser Säugling sei die Wiedergeburt ihres ermordeten Ehemannes. »Iss ordentlich, Serafí; sobald die Sonne aufgeht, musst du im Weinberg schuften«, mahnte sie, wenn sie ihn um Mitternacht stillte. Und neben sein Bettchen legte sie ihm die Kleider für den Morgen und das Werkzeug: die Espadrilles, die Spitzhacke, die Düngerspritze.
    Da ihre Eltern früh gestorben waren und sie keine Angehörigen hatte, die sich um sie hätten kümmern können, zögerten die Ärzte nicht, sie in die Irrenanstalt Pere Mata in Reus einzusperren. Dort starb sie zehn Jahre später, einsam und verkümmert. Inzwischen war Bundó den Weg aller Waisen aus armen Familien gegangen: von der Notstation in die Casa de la Caritat. Und seine Erinnerung an die Mutter beschränkte sich auf das sehr undeutliche, kaum bewusste Bild eines Gesichts mit starrem Blick, das ihm in besonders traurigen Momenten blitzartig erschien. Vielleicht war es auch gar keine echte Erinnerung. Wir sagten es ja bereits: Auch für uns vier ist Bundó wie ein Bruder unseres Vaters. In jenen Jahren stiftete das Leben im Waisenhaus unerschütterliche Bündnisse und unerklärliche Anhänglichkeiten. Ganz auf sich allein gestellt, kamen die Kinder dorthin, und um zu überleben, bildeten sie heimliche Banden und schlossen noch heimlichere Blutsbrüderschaften. Die Entscheidung, ob man sich anfreundete, war instinktiv und gnadenlos. Du gefällst mir, du gefällst mir nicht. Eine solche willkürliche, nicht einmal für sie selbst fassbare Neigung war es auch, die Bundó und Gabriel in der Casa de la Caritat vom ersten Tag an wie Pech und Schwefel sein ließ. Carn i ungla. Hand in glove. Comme les doigts de la main. Von den Fotos, die wir haben, und dem, was die Mütter und Petroli sagen, wissen wir, dass Bundó groß und stämmig war. Wirklich dick wurde er nicht, weil das ständige Möbeltragen ihn in Form hielt, doch er aß gern und viel, und die Hosen saßen ihm immer ein bisschen eng. Die Mittagsruhe war ihm heilig, egal ob im Pensionszimmer oder im Lkw. Von klein auf hatte er ein weniger verschlossenes und berechnendes Naturell gezeigt als Gabriel, er war eher der Abenteurer und Draufgänger gewesen; auch in dieser Hinsicht ergänzten die beiden sich bestens.
    Mit dem Älterwerden lernten sie, wenngleich es ihnen schwerfiel, manchmal Abstand zueinander einzunehmen. Fast ohne Unterbrechung lebten sie zusammen, erst in denselben vier Wänden, dann über den vier Rädern des Pegaso-Lasters. Erst spät wurde ihnen überhaupt bewusst, dass es Intimitäten gab, die sie beide in getrennten Räumen auslebten.
    Ihre Vorlieben in Liebesdingen waren allerdings fast gegensätzlich. Unser Vater brachte es im Lauf der Jahre auf vier Familien in vier verschiedenen Ländern – ein Crescendo, das dann plötzlich abbrach, wir werden

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