Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
es betörte uns, wie er dabei die Stimme verstellte. Bis heute klingt uns im Ohr, wie langsam und bedeutungsschwer er jedes Wort artikulierte – auch wenn er den Zauber oft selbst zerstörte, indem er etwas falsch übersetzte oder unverständlich aussprach. Da wir Kinder waren, die nach Zuneigung lechzten, machten wir es uns zur Aufgabe, die unzusammenhängenden Details der Erzählung still miteinander zu verbinden.
Schwester Elisa, hob der Vater an, war sehr groß und trug immer die schwarze feierliche Ordenstracht. So erinnerte sie mit ihrem humpelnden Gang an eine verletzte Krähe. Wenn die Kinder sie, kurz nach ihrem Eintritt ins Waisenhaus, zum ersten Mal erblickten, fingen die meisten von ihnen an zu weinen. Zwar tat sie nichts, um sie zu erschrecken, andererseits lächelte sie auch nie. Ihr rundes Gesicht, eingerahmt von der weißen Haube, die ihr über dem Kopf aufragte wie das Geweih eines Fabeltiers, schimmerte nachts, oder wenn sonst wenig Licht war, wie ein bleicher Mond in der Luft. Stets hielt sie die Lippen mürrisch verzogen, erstarrt in einer Grimasse des Schmerzes darüber, dass sie hinkte. Sie sagte fast nie ein Wort, und ihr Schweigen war ansteckend. Wo sie auftauchte, brach jedes Gespräch ab, alles verstummte. So seltsam es klingen mag: Die hinkende Nonne hatte ein Holzbein. Das rhythmische Tock-tock-tock ihrer Schritte ließ die Stille, die sie verbreitete, noch unheilvoller erscheinen. An dieser Stelle schwieg auch der Vater und pochte plötzlich mit den Fingerknöcheln vier-, fünfmal gegen den Nachttisch, den Kleiderschrank, den Stuhl oder was er sonst Hölzernes zur Hand hatte. Da blieb uns schier das Herz stehen; oder wenn es noch schlug, dann im selben schleppenden Takt wie Vaters Knöchel.
Das Geheimnis der hinkenden Nonne war, dass niemand ihr Holzbein je zu Gesicht bekommen hatte. Verborgen unter der schlecht sitzenden Tracht, heizte es die Fantasie jedes Kindes in der Casa de la Caritat an. Es wurde zur Obsession, mit der sie alle aufwuchsen, und am Ende schien es ein Ding mit eigenem Leben zu sein. Wann immer Schwester Elisa einen Flur entlangging, ins Klassenzimmer trat, um dem Lehrer etwas auszurichten, oder die Schüler zur Kirche begleitete, starrten alle wie gebannt auf ihr Ordenskleid, auf die Stelle, unter der sich das Bein befinden musste. Manchmal, wenn die Nonne einen zu großen Schritt machte oder wenn sie für einen Moment innehielt, zeichnete sich unter dem schwarzen Stoff eine seltsame Form ab, wie ein quer stehender, übel gebrochener Knochen. Hatte sie die Aufsicht über die Schlafsäle, so machte das wiederkehrende Tock-tock-tock auf den Bodenfliesen die Nacht noch schwärzer als sonst, ließ die Betttücher gefrieren und das Blut in den Adern stocken. Die Albträume waren zyklisch.
Haarsträubende Geschichten über den Ursprung des falschen Beins wurden von den Großen an die Kleineren weitergegeben und sorgten dafür, dass der Mythos nicht verblasste. Eine der ausgefeiltesten Legenden besagte, eines Abends, als Schwester Elisa trotz eines schweren Gewitters in Gedanken versunken allein im Garten unterwegs gewesen war, sei ein Blitz zu ihren Füßen eingeschlagen und habe ihr das eine Bein bis zur Hüfte hoch verkohlt; und zwar so, dass es qualmte wie eine schlecht gelöschte Fackel. Derselbe Blitz habe von der Eiche, unter der die Ordensschwester Schutz gesucht hatte, den dicksten Ast heruntergerissen. Von dem Lärm aufgeschreckt, kam der Gärtner gerannt, um zu sehen, was mit seinem Lieblingsbaum geschehen war. Er rettete die Nonne vor dem Tod und legte am Fuß des Baumes ein Gelübde ab: Wenn durch die Gnade Gottes beide überlebten, Schwester Elisa und die Eiche, so würde er aus dem Holz des abgerissenen Asts ein Bein für Elisa schnitzen. Der Sage zufolge war der Gärtner der Einzige, der wusste, wie das Bein aussah. Doch er verriet nie ein Sterbenswörtchen darüber. Die Geschichte wurde weitergesponnen; so munkelte man, der Eichenast habe nun begonnen auszutreiben, und bald schon werde das Bein der Nonne Blätter tragen. Dann wieder hieß es, die Beinprothese stamme in Wahrheit von einer alten Schaufensterpuppe aus dem Kaufhaus Can Jorba und sei innen hohl – daher das unheimliche Tock-tock-tock. Ein paar vorwitzige Burschen, die schon Die Schatzinsel gelesen hatten, stellten sich unter dem Habit eine Piratenprothese wie die von Long John Silver vor: dünn wie ein Besenstiel und oben mit einer Pfanne, die dem Beinstumpf genau angepasst war. Wenn sie in
Weitere Kostenlose Bücher