Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
ein Termin beim Ohrenarzt der Mútua del Transportista fiel. Speditionsfahrer führen keine in Leder gebundene Agenda, in der sie solche Dinge notieren; vielleicht stehlen sie in Einzelfällen ein Exemplar, aber das verschenken sie dann gleich weiter. Der übliche Vorgang war profaner: Auf Weisung von Herrn Casellas überreichte Rebeca ihnen die Terminliste; die kam ihnen sogleich abhanden; zwei Tage vor dem anberaumten Arztbesuch sagte Rebeca ihnen noch einmal Bescheid, und sie speicherten die Information in ihrem Kurzzeitgedächtnis. Nur dass Rebeca diesmal Gabriel nicht Bescheid gesagt hatte, denn er arbeitete ja nicht mehr für La Ibérica. Nach dem Unfall war der Termin ebenso gründlich im Nichts versunken, wie ihn Rita nun vom Zettel gesaugt hatte und sich daran festklammerte.
Doch es begab sich nun einmal, dass Gabriel an diesem Freitagmorgen mit entsetzlichen Ohrenschmerzen erwachte.
Seit er sich erhoben und angezogen hatte, sickerte aus seinem Gehörgang eine gelbliche Flüssigkeit, weshalb er sich Watte ins Ohr stopfte. Es war neun Uhr morgens. Unfähig, feste Nahrung zu sich zu nehmen, weil jeder Bissen eine Folter gewesen wäre, kam der Fernfahrer Gabriel zu dem Schluss, dass ihm keine andere Wahl blieb, als sich zur Notaufnahme der Mútua zu begeben. Eine Stunde später traf er dort ein, nachdem er, mit zweimal Umsteigen, die halbe Stadt per Bus durchquert hatte. Die anderen Fahrgäste warfen ihm mitleidige Blicke zu, und er spürte, wie ihm das Ohr mit jedem Stich weiter anschwoll. Zum ersten Mal in diesen Monaten vermisste er den Lieferwagen von La Ibérica.
Als er die Plató-Klinik betrat, ging Rita gerade den Carrer Muntaner hoch. Bis zum auf dem Zettel angegebenen Termin war es noch eine Weile hin, doch wie schon acht Tage zuvor kam sie lieber früh an und hielt am Eingang Wache. Gabriel ging zum Empfang und fragte nach der Notfallhilfe. Als sie sein Ohr sahen, so rot und vereitert, schickten sie ihn sofort zum Fachmann. Dort angelangt, wurde er von einer Arzthelferin um seine Versicherungskarte gebeten, und als sie seinen Namen las, sagte sie, man erwarte ihn bereits. Er sei zwar eigentlich zu früh, aber er dürfe gleich hinein, damit er nicht noch länger leiden müsse. Gabriel hielt diese Szene für eine vom Schmerz ausgelöste Halluzination.
Fünf Minuten später, als der Doktor ihn in sein Behandlungszimmer vorließ, stieg Rita im Treppenhaus der Klinik zur HNO-Abteilung hoch. Da es beim Augenarzt so gut geklappt hatte, führte sie mit der Krankenschwester den gleichen Dialog wie dort in der vorigen Woche. Sie komme, um eine Freundin zu treffen, die noch nicht da sei. Der tue das Ohr sehr weh, und sie habe Gleichgewichtsstörungen. Darum habe sie sie gebeten, sie nach Hause zu begleiten. Die Schwester glaubte ihr, und sie setzte sich ins Wartezimmer (ins Nichts-mehr-erwarte-Zimmer, wie sie es unterdessen umgenannt hatte).
Gabriels Termin bei Dr. Sadurní dauerte etwa zwanzig Minuten. Von ihrem Platz aus konnte Rita zwar hören, dass der Arzt mit einem anderen Mann sprach, doch weder verstand sie, was geredet wurde, noch ahnte sie, dass es sich um Gabriel handelte. Sie bewachte weiter die Eingangstür, und jedes Mal, wenn jemand eintrat, machte ihr Herz einen Sprung.
Im Behandlungszimmer ließ Dr. Sadurní Gabriel auf einer Pritsche Platz nehmen und untersuchte sein Ohr erst mit bloßem Auge, dann mit einem Instrument, das einer Trompete ähnelte. Gabriel erkannte den Arzt von einer früheren Untersuchung her wieder und war erleichert. Ein herzlicher, fürsorglicher Mann, von der alten Schule. Er war schon über sechzig, trug Hosenträger und Fliege, redete die Patienten mit »Ihr« an und sprach sehr laut, wohl weil die meisten halb taub bei ihm aufliefen. Mit einem Stäbchen stocherte er in Gabriels Ohr herum, und als der Patient ein Ächzen nicht unterdrücken konnte, gab er, um ihn zu beruhigen, geheimnisvolle Laute von sich: »Berebee, berebee, berebee …«
In seiner langjährigen Erfahrung und nachdem er etliche Kombinationen ausprobiert hatte, war er zu dem Schluss gekommen, dass der Vokal E, verbunden mit B und R, den Klang bildete, der entzündete Gehörgänge am besten beruhigen konnte. Er stellte ein Zinnschälchen bereit und zog Wasserstoffperoxid in einer Spritze hoch.
»Das wird Euch für einen Moment wehtun«, kündigte er an.
Gabriel empfing den Schwall mit gekrümmtem Rücken und zugepressten Augen. Es war, als lähmte ihn ein Stromschlag, doch gleich darauf zog sich
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