Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
der Schmerz zusammen mit der Flüssigkeit zurück. Der Pfropfen hatte sich aus dem Ohr gelöst, und der frei gewordene Hohlraum füllte sich mit einem unangenehmen Pfeifen.
»Berebee, berebee, berebee …«
Der Doktor legte ihm die Hand auf die Schulter, damit er stillhielt. Mit einem weiteren Wattestäbchen nahm er eine Probe von dem Eiter, der nun aus dem Ohr floss, und strich ihn auf ein weißes Papier. Er war von leicht schillernder eidechsengrüner Farbe, und der Arzt zeigte ihn Gabriel, als wäre es ein Edelstein.
»Ihr habt da eine gewaltige Infektion, mein Freund. So was habe ich selten gesehen. Sechs oder sieben Fälle in vierzig Jahren Praxis, wenn Ihr es genauer wissen wollt. Nun werden wir schauen, woher das kommen könnte, damit es sich nicht wiederholt.«
Er desinfizierte das Ohr und strich ein wenig Salbe hinein. Dann überklebte er die Ohrmuschel mit einem monströsen Mullverband, für den Gabriel aber dankbar war, denn er schien die Bestie im Gehörgang zur Ruhe zu bringen.
»Fünf, sechs Tage lang darf da kein Luftzug drankommen. Ich verschreibe Euch ein Antibiotikum und diese Salbe. Jeden Morgen erneuert Ihr den Verband. Nachts zum Schlafen legt Ihr ihn bitte ab. Es wird Euch das Kopfkissen verschmieren, aber das macht nichts. Die Ohren haben auch ein Recht, zu atmen und sich auszudrücken, nicht bloß zuzuhören.«
Gabriel sagte mechanisch Ja, als würde er jetzt erst erwachen. Der Doktor nahm das Papier mit der Eiterprobe, setzte sich an den Tisch und schlug ein sehr dickes Handbuch auf. Er blätterte und nickte. Dann griff er zu einem weiteren Buch und sah sich darin einige Fotos an.
»Ihr leidet an einer akuten Infektion des Innenohrs, sehr unüblich, wie ich schon sagte. Da hat sich eine seltene chemische Verbindung gebildet und Euch nach und nach den Sinus verstopft. Erlaubt mir eine persönliche Frage: Habt Ihr in letzter Zeit den Tod eines Angehörigen erleiden müssen oder ein ähnliches Unglück?«
Da brauchte Gabriel nicht nachzudenken.
»Ein Freund von mir ist gestorben, der wie ein Bruder für mich war, ja.«
»So etwas dachte ich mir. Und wie lange ist es her?«
»Heute zweiundachtzig Tage.«
»Du lieber Himmel, das ist viel. Und sagt mir, habt Ihr nicht geweint, als er starb?«
»Nein«, antwortete Gabriel bedrückt. »Ich habe bisher nicht um ihn weinen können. Es geht nicht.«
»Dann wissen wir nun Bescheid. Vielleicht kommt Euch das komisch vor, mein Freund, aber die während so langer Zeit nicht vergossenen Tränen haben bei Euch eine Infektion ausgelöst. Es ist so: Die Tränen werden im sogenannten Tränensack gebildet. Der menschliche Körper ist sehr intelligent, müsst Ihr wissen. Wenn er weinen muss, füllt er den Tränensack, aber wenn die Tränen dann nicht fließen können, entsteht ein Überschuss an Natrium und Kalium, der Entzündungen in den Organen verursacht und das ganze System aus dem Gleichgewicht bringt. Ihr müsst dieses Ohr gut pflegen, und seht zu, dass Ihr endlich um Euern Freund weint. Das ist die beste Medizin. Betrachtet diese Erkrankung so, als würde er Euch von der anderen Seite aus darum anflehen.«
Gabriel bedankte sich bei Dr. Sadurní und verließ beklommen das Behandlungszimmer. Er war nicht am Boden zerstört, noch nicht, doch die Erklärungen des Arztes hatten ihn tief erschüttert, und es fiel ihm schwer, seine Gedanken zu ordnen. Die Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben, und als er in der Tür erschien, erkannte Rita sofort den Gabriel vom Flughafen wieder.
Der zerstörte Mensch schrie danach, dass jemand sich um ihn kümmerte.
Zwar trug er nun nicht mehr den Arm in Gips, aber der groteske Ohrverband legte dieses Bild genauso nahe. Der Moment war gekommen. Sie schloss die Finger fest um die Mappe und erhob sich mit weichen Knien, doch Gabriel ging an ihr vorbei, ohne sie zu sehen.
Das war nicht schlimm, sie verstand es. Sie folgte ihm ins Treppenhaus, in gebührendem Abstand; von Weitem hörte sie noch, wie der Doktor zu jemandem »Berebee, berebee, berebee …« sagte. Draußen lief Gabriel in Richtung Carrer Muntaner. Die Worte des Arztes gingen ihm nicht aus dem Kopf, und seine Schritte wurden immer langsamer. Rita musste stehen bleiben, um ihn nicht anzurempeln. Gabriel merkte nichts, so tief war er in seine Gedanken versunken. Ein Teil von ihm, der rationalere, wehrte sich dagegen, diese Ohrenschmerzen mit Bundós Tod in Verbindung zu bringen. Doch das Schuldgefühl gewann an Boden und schimpfte, er sei
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