Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
weinst du?«
»Aus Freude. Weil wir uns endlich gefunden haben. Und du?«
»Ich weine um einen Freund, der Bundó hieß.«
An diesem Punkt, Christofs, erlaubt ihr mir ein heimtückisches Manöver, um das, was anschließend geschah, kurz zu resümieren? Ich meine, wir könnten einen Zeitsprung machen, sodass all dieses Weinen, all diese Flüsse und Nebenflüsse von Tränen sich in einem einzigen Strahl bündeln, will sagen in dem Schrei, mit dem ich die Stille meiner ersten Sekunden auf der Welt zerriss, nachdem mir die Hebamme einen Klaps auf den Po gegeben hatte. Neun Monate später war das, plus fünf, sechs Tage als Dreingabe.
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D IE FÜNFTE M UTTER
Es ist ein Jammer, dass wir nicht schon mit voll funktionierendem Gedächtnis geboren werden. In diesem Moment beispielsweise wäre uns eine solche Gabe höchst hilfreich, um zu beschreiben, was für eine Beziehung Gabriel zu unsern Müttern unterhielt. Wir würden uns erinnern, wie genau die Tage verliefen, an denen er uns besuchte und bei uns übernachtete. Wie vertraulich sie miteinander umgingen; wann sie sich stritten und worüber; ob sie sich jemals wie ein richtiges Paar fühlten. Ob es da, schlicht gesagt, eine Normalität gab. (Nein, die gab es natürlich nicht, das Paarleben erfordert ja ein Reifen der Gefühle, was Gabriel nicht zuließ.) Weil wir vier noch zu jung waren, um wirklich etwas zu verstehen, müssen wir uns auf die Bilder verlassen, die Sigrun, Mireille, Sarah und Rita uns vermitteln. Symptomatisch ist, dass sie ihn übereinstimmend als einen gütigen, unabhängigen, flüchtigen Mann zeichnen, ohne irgendeinen Griff, an dem man ihn hätte festhalten können. Ein süßes Unglück, sagen sie, oder ein bitteres Geschenk.
Erlaubt uns eine kleine Eitelkeit, Mütter: Wenn wir vier nicht wären, hätte Gabriel, der Erzeuger der Christofs, in eurer Biografie den Stellenwert eines eher unbedeutenden Zwischenfalls. Eine Gestalt aus einer Phase der sexuellen Freuden und der Liebeszweifel, an die ihr manchmal mit Stolz und manchmal mit Geringschätzung zurückdenken würdet, so wie an alles Mögliche im Leben.
Wer die Sache von außen betrachtet, wird sich vielleicht fragen: Kamen danach nicht andere? Aber gewiss doch, alle lernten sie weitere Männer kennen, bloß hat keiner von denen Gabriel wirklich ersetzt, und darum kommen sie hier nicht vor.
Der Hauptzweck unserer Treffen war und ist, die Schritte unseres Vaters nachzuzeichnen. Wir vier sind allein mit ihm/ihm gegenüber/für ihn/gegen ihn (nehmt die Präposition, die euch gefällt), und deshalb bleiben unsere Mütter hier am Rand. Wozu man sagen muss, dass sie mit dieser Entscheidung sehr einverstanden sind.
Von Anfang an haben wir ja klargestellt, dass Bundós traumatischer Tod den Reisen unseres Vaters ein Ende setzte und dass er seither nie wieder zu uns gekommen ist. Vielleicht zeugt die Tatsache, dass unsere Mütter sich damit ohne größeren Widerstand abfanden und ihn, jede auf ihre Weise, nach und nach doch vergaßen, von der Zerbrechlichkeit ihrer Beziehung zu Gabriel. Letztlich sind sie ja die ganze Zeit alleinerziehend gewesen.
Wir können uns ausmalen, dass ohne den Unfall mit dem Pegaso an jenem Valentinsmorgen alles ganz anders gekommen wäre, aber das sind Hirngespinste. Mit Sicherheit lässt sich nur sagen, dass im Lauf der Jahre die Lage für Gabriel unerträglich geworden wäre. Al final s’ha sabut el secret, wie es im Gedicht heißt. At last the secret is out. En fin le secret est percé. Das Geheimnis ist gelüftet.
Gabriel selbst rückte sich, wenige Monate nachdem er aufgehört hatte, seine Söhne und Frauen jenseits der Pyrenäen zu besuchen, in denkbar schlechtes Licht. Sein Zusammentreffen mit Rita und Cristòfols Geburt hätten ihm die große Chance geboten, einen Schlussstrich zu ziehen. Nur eine Familie, nur eine Stadt. Klare Grenzen. Doch schon nach kurzer Zeit stellte er fest, dass er für Konventionen nicht taugte, und verfiel wieder in seine einzelgängerischen Gewohnheiten. Rita selbst hat diese Enttäuschung sehr gut für uns zusammengefasst – »als die Gegenwart sich aufzwängte«, das ist ihre Formulierung dafür –, aber einmal mehr quengelt Cristòfol um Erlaubnis, uns diese erste Phase auszubreiten.
Du hast fünf Minuten, Cristòfol, nicht eine Sekunde mehr. Achtung, fertig, los!
»Habt Dank für eure unendliche Großzügigkeit, Christofs. Eingangs sei festgehalten, dass Gabriel nie bei uns im Carrer del Tigre gewohnt hat. Aber er hat viele
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