Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
kleinlich und kleinmütig. Eine innere Stimme, die von jenseits des Grabes zu ertönen schien, machte ihm sogar seine Selbstmordpläne zum Vorwurf. Was für ein Feigling er war! Plötzlich hatte er das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Er stolperte, und Rita glaubte schon, sie müsse ihn gleich vom Boden aufheben. Doch er ging noch einige Schritte weiter, über die Straße, und setzte sich auf eine Bank an der Plaça Adrià. Es war nicht die Bank des Pärchens von der letzten Woche, die stand geschützter, halb versteckt zwischen dem Gesträuch. Rita ließ ihn gewähren. Es galt, mit größter Behutsamkeit vorzugehen. Vor allem, nichts zu überstürzen. Ihr schien, dass Gabriel sich beruhigte.
Zu dieser Stunde am Vormittag war die Plaça Adrià eine Oase der Stille.
Nach und nach, am ganzen Körper zitternd wie der Pegaso, wenn der Motor nicht anspringen wollte, begann Gabriel zu weinen. Erst stieg ihm eine Träne ins rechte Auge und rann heraus, dann floss eine andere ihm aus dem linken Auge. Und schon schien der Strom wieder zu versiegen, das war’s und Schluss. Aber nein, da zeigten sich erneut zwei Tränen, salzig und prall, geradezu prahlerisch.
Wenn sich der Lkw-Motor noch weiter verweigerte, an den eisigen Wintermorgen im Norden, feuerte Bundó ihn an: »Mach schon, du Mistvieh! Los, sei nicht so schüchtern!«
Der Tränenfluss wurde heftiger, und Gabriels Körper begann zu zucken. Ein Wimmern entfuhr ihm und mündete in ein schrilles Schluchzen.
»So, ja, so!«, schrie Bundó. »Lass dich gehen! Zeig uns deine Kraft, Pegaso!«
Da bäumte sich der Laster auf wie ein Pferd, mit einem stolzen Schnauben, und Bundó lachte, schlug vor Freude mit beiden Händen aufs Lenkrad und fing sich die anerkennenden Blicke seiner Freunde ein. Nun heulte Gabriel schon aus vollem Hals, weinte mit den Augen und mit dem ganzen Körper, der unaufhaltsam zuckte und zitterte.
Als eine, wie ihr schien, angemessene Weile verstrichen war, setzte sich Rita auf dieselbe Bank, ein Stück von ihm entfernt. Er blickte zu ihr hinüber, mit hängendem Kopf. Dabei hörte er nicht auf zu weinen, er konnte nicht mehr aufhören. Seine Augen waren rot und geschwollen, seine Wangen glänzten nass. Rita reichte ihm ein Taschentuch, er nahm es und schluchzte ein Danke. Doch anstatt sich die Tränen abzuwischen, putzte er sich die Nase, um dann weiterzuweinen.
Drei Stunden vergingen, ich übertreibe nicht, drei Stunden, in denen Gabriel auf jede erdenkliche Weise weinte – als wollte er damit sein ganzes Leben an Bundós Seite zusammenfassen. Er barmte wie ein Säugling, der nach der Brust verlangt. Er vergoss die Krokodilstränen eines Kindes, das eine Szene macht. Er wimmerte vor sich hin wie ein Jugendlicher im Liebesleid und schniefte wie ein Erwachsener, der seine Tränen als Erkältung tarnen will. Er weinte, wie du bei einem Melodram im dunklen Kino weinst, und weinte wie im Fußballstadion vor allen Leuten, wenn deine Mannschaft das Finale verloren hat. Er weinte vor Zorn, vor Kummer, vor körperlichem Schmerz und um Mitleid heischend. Er weinte, ohne zu wissen, warum, aus purer Traurigkeit, und weinte wie eine Heulsuse, geradezu genussvoll, weil es erfrischte. Er jaulte wie ein geprügelter Hund. Er bekam Schluckauf vom vielen Weinen. Er heulte, er klagte, er seufzte. Die Brust und die Gesichtsmuskeln taten ihm weh, seine Augenlider brannten. Wenn er wieder zu Atem kommen musste, verlegte er sich eine Zeit lang aufs Schluchzen. Und wenn er glaubte, nun seien keine Tränen mehr übrig, musste er nur an Bundó denken, und schon schenkte ihm eine unbekannte Quelle irgendwo hinter den Augen noch ein paar Liter mehr.
Drei Stunden, sage ich. Hätte er all diese Tränen aufgefangen, getrocknet und ihnen das Salz entzogen, so hätte er sich für den Rest seines Lebens das Essen würzen können.
Rita saß weiter an seiner Seite. Längst hatte auch sie begonnen zu weinen, all die Anspannung und Angst dieser letzten Monate abzulassen, die Ermüdung nach so vielen nutzlosen Kilometern durch Barcelona. Dieser Winkel auf der Plaça Adrià war ein Tal der Tränen, ein Tränodrom.
Es fing an zu nieseln, plötzlich, aber ganz friedlich, und das fanden sie beide nur konsequent: Selbst das Wetter schloss sich ihnen an. Doch schließlich gab Rita Gabriel die Mappe. Er schlug sie auf, erkannte die Papiere wieder, die Routenpläne, Bundós Listen, und hatte einen neuen Grund zum Weinen.
Nach einer Weile wandte er sich zu Rita und fragte: »Warum
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