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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jordi Punti
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werden konnte.
    An dieser Stelle ein paar Worte über Rita. Wenn ich sie zwinge, die Folterkammer der Erinnerungen zu betreten – ja, ich zwinge sie dazu, ich bin ein schlechter Sohn –, sagt sie, in jenen Wochen habe sie den Energievorrat für ein halbes Leben verbraucht. Sie erklärt es so:
    »Mein Normalzustand war damals die Wachsamkeit; immer auf der Lauer, immer in Alarmbereitschaft – eine Überspanntheit, die mich Tag und Nacht im Griff hielt, eine Beherztheit, wie ich sie später nie wieder erlebt habe. Der Grund ist, dass ich in der Zukunft lebte und nicht in der Gegenwart. Die Gegenwart war bloß ein Trampolin. Und man weiß ja, wie die Fantasie uns helfen kann, die fehlenden Buchstaben für das Zauberwort ›Glück‹ zu finden. Als ich auf und ab durch dieses Spielzeug-Barcelona rannte, zweifelte ich nicht einen Moment daran, dass ich irgendwann auf Gabriel stoßen würde. Und dass er mir dann nicht weglaufen würde. Dafür reichten die paar Minuten aus, die ich ihm am Flughafen in die Augen geblickt hatte.«
    »Dass du dich in jemanden verliebtest, den du nur flüchtig vom Sehen kanntest, lässt mich vermuten, dass du vielleicht verliebt in die Liebe warst«, halte ich ihr entgegen. »Es gibt doch solche Menschen. Vielleicht war Gabriel nur eine Projektionsfläche, auf der du …«
    »Nein, nein, ganz sicher nicht«, schneidet sie mir das Wort ab. Sie mag es nicht, wenn ich ihr mit absurden Theorien komme. »Der Beweis ist, dass mir so ein Irrtum kein weiteres Mal passiert ist. Ich war in Gabriel verliebt und Punkt: in die Zukunft mit Gabriel. Es müssen ja nicht alle Liebesgeschichten nach Schema F ablaufen, oder?« Sie beginnt sich zu ärgern. »Was denkst du denn? Dass es keine anderen Gelegenheiten gab? Ich war zwanzig Jahre alt, meine Persönlichkeit geformt von familiärem Unheil und Einsamkeit, ich weiß nicht, was von beidem schlimmer war. Ich hatte gelernt, alleine zurechtzukommen! Mehr als ein Reisender mit fetter Brieftasche, die er mir gleich schamlos vorzeigte, hatte mir an Ort und Stelle, im Stehen vor dem Käfig, einen Heiratsantrag gemacht, fünf Minuten nachdem er mich zum ersten Mal erblickt hatte. Vielleicht hätte ich da mitspielen sollen … Wer weiß, wo ich jetzt wäre. Du nirgendwo, mein Liebchen, so viel ist sicher. Du wärst nirgendwo.«
    Also gut. Ich verstehe den Wink – wie immer – und halte den Mund. Mit vierzehn oder fünfzehn Jahren flehte ich sie an, sie solle mich nie wieder »mein Liebchen« nennen, aber bei Gelegenheiten wie dieser ist es ihre Geheimwaffe.
    Nach Feierabend trug Rita die Mappe mit maßloser Vorsicht heim. Fest an ihre Brust gedrückt, als wäre sie eine keusche Studentin, voller Argwohn gegen jeden, der ihr nahe kam. Sie hätte sie während der Busfahrt öffnen können, doch sie wagte es nicht, das in der Öffentlichkeit zu tun. Sobald sie die Schwelle ihrer Wohnung übertreten hatte, verwandelte sich die Vorsicht in Andacht. Sie legte die Mappe auf den Esstisch, bereit für die Examinierung. Zuvor jedoch zog sie sich um, ging auf die Toilette und machte sich eine Tasse heißen Kakao, wie wenn sie einen guten Film im Fernsehen anschauen oder das letzte Kapitel eines besonders fesselnden Romans lesen wollte. Hier war sie ungestört. Sie hatte keine Eile und genoss es, die Spannung immer weiter wachsen zu lassen. Das Schicksal hatte ihr schon so viel versprochen und dann doch nicht gegeben, sagte sie sich, dass es nun kein Recht mehr hatte, sie zu enttäuschen.
    Zwei Monate zuvor, in dem Wagen, der ihn zum Flughafen fuhr, hatte Gabriel den Inhalt der Mappe geordnet. Und nun schickte Rita sich an, diesen Akt rückgängig zu machen. Die Inspektion der Pegaso-Papiere fand sie interessant, weil sie ihr Gabriel physisch näherbrachten: Die meisten der Blätter wiesen ölige Fingerabdrücke auf, und gewiss waren welche von ihm dabei. Der internationale Führerschein und die Routenpläne schienen ihr dagegen unverständlich und wertlos. Der Prospekt über die Wohnungen in der Via Favència bestätigte ihr, dass sie den richtigen Ort ausgespäht hatte, doch ihre Erinnerungen an jenes verlorene, durchfrorene Wochenende waren alles andere als wehmütig. Beim Rest der Papiere handelte es sich um langweilige Rundschreiben von der Firma, zerknitterte Umzugsdokumente von vor fünf Jahren (die sich aber in Ritas Augen in Autogrammkarten Gabriels verwandelten, denn oft war er es, der sie unterzeichnet hatte), Lieferadressen und Hinweise zum Ausladen der

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