Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
kamen ins Wartezimmer, aber kein Gabriel. Um zehn nach zehn streckte die Arzthelferin wieder einmal den Kopf durch die Tür und rief: »Serafín Bundó.«
Sie wiederholte den Namen, und als niemand aufstand, nannte sie einen anderen.
»Gabriel Delacruz.«
Pause. Die Wartenden sahen sich an.
»Gabriel Delacruz?«
Rita war kurz davor, »Hier!« zu schreien und selbst ins Behandlungszimmer zu eilen, so sehr identifizierte sie sich mit diesem Namen, doch schon wurde der nächste auf der Liste aufgerufen, und eine junge Frau erhob sich. Rita wartete noch einmal zehn Minuten, für alle Fälle, aber dann ging sie schweigend und mit hängenden Schultern. Anders als die bisherigen Enttäuschungen brachte dieses Scheitern sie zur Verzweiflung. Wie eine Schauspielerin, die Mühe hat, wieder aus ihrer Rolle herauszufinden, wenn der Vorhang gefallen ist, verließ sie die Klinik, mit verschwommener Sicht. Obwohl die Sonne schien, hatte sich die Welt draußen in ein diffuses Farbgemisch verwandelt, in dem die Grautöne vorherrschten. Wenn sie ihren Blick dann doch wieder scharf stellte und zuließ, dass die Dinge ihre natürliche Gestalt zurückerlangten, dann nur deshalb, weil ihr ja noch zwei Kugeln im Magazin verblieben. Der 5. und der 8. Mai. In einem Anfall praktischer Vernunft schwor sie sich, wenn auch keiner dieser beiden Tage ihr Gabriel näherbrachte, dann würde sie ihn ein für alle Mal vergessen.
Sie lief den Carrer Muntaner hinauf, damit beschäftigt, sich von ihren eigenen Argumenten zu überzeugen, als sie plötzlich glaubte, ihn auf einer Bank sitzen zu sehen, an der Plaça Adrià. Er kehrte ihr den Rücken zu, doch die breiten Schultern, das kurz geschnittene Haar und der längliche Schädel stimmten mit dem Bild überein, das sie sich von ihm gemacht hatte. Sofort begann sie mit den Mutmaßungen: Vielleicht war er auf dem Weg zum Arzt gewesen und hatte es sich anders überlegt; vielleicht hatte er die Adresse verloren und wusste nun nicht, was er tun sollte; vielleicht … In letzter Zeit, bevor sie an die drei entscheidenden Daten kam, hatte es in der Stadt von Gabriels gewimmelt, und derartige Erscheinungen waren zu einer Konstante in Ritas Alltag geworden. Auf ihren Gängen durch Barcelona verbrachte sie oft eine Stunde damit, so einem Gabriel-Kandidaten zu folgen und ihn aus der Distanz zu beobachten, bis irgendein Detail ihr klarmachte, dass er es nicht war. Aus einer Art Aberglauben hatte sie keinen dieser Männer je angesprochen. Nun aber fand sie, dass die Gelegenheit gekommen war, und überquerte die Straße. Im selben Moment trat eine junge Frau hinter die Bank, legte dem Mann die Hände auf die Augen und fragte: »Wer bin ich?« Aus drei Metern Abstand hörte Rita ihn antworten und sah, wie er sich umwandte und dem Mädchen einen Kuss gab. Nein, auch der war nicht Gabriel. Zum Glück.
Es ist an der Zeit, uns mit Bundós Eingriff aus dem Jenseits zu befassen. Bestimmt gibt es in der Parapsychologie einen Begriff für dieses Phänomen, aber ich kenne ihn nicht. Die Sache war die, dass Gabriel am Freitagmorgen, dreißig Stunden vor dem vorgesehenen Zeitpunkt seines Selbstmords, mit unerträglichen Ohrenschmerzen erwachte. In ausgedehnten Wellen war der Schmerz in seinen Schlaf vorgedrungen, hatte ihm irgendeinen Traum verdorben und ihn immer weiter beharkt, bis er alarmiert die Augen aufriss. Das Stechen entstand tief innen im rechten Ohr. Es quoll im Gehirn auf und breitete sich in konzentrischen Kreisen aus, um jede Nervenverästelung auf dieser Seite des Schädels zu verwüsten. Mit dem Pulsschlag raste der Schmerz durch die Adern. Die vier Schritte bis zum Bad fühlten sich an wie eine einzige andauernde Explosion seines Trommelfells. Gabriel spürte, dass Eiter seinen Gehörgang verstopfte, und er war auf der Seite völlig taub. Im Spiegel vergewisserte er sich, dass es die rechte Hälfte seines Gesichts überhaupt noch gab. Seine Lider flatterten.
Einmal hatte Petroli ihnen zu erklären versucht, was für Grausamkeiten eine ordentliche Ohrenentzündung anrichtete: »Es ist wie Zahnschmerzen, aber wenn dir alle Zähne auf einmal wehtun.« Er und Bundó hatten abgewinkt, was für eine Übertreibung, aber nun musste er dem alten Freund recht geben. In dieser Situation dachte er das Gleiche, was wir alle gedacht hätten: Wenn ich solche Schmerzen habe, kann ich mich morgen nicht umbringen.
Gabriel hatte vergessen (falls er es überhaupt je gewusst hatte), dass genau auf diesen Freitag für ihn
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