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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jordi Punti
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Duty-free-Shop ein. Die Metzger aus Leeds und ihre Frauen stolzierten hochnäsig an Deck umher, als kehrten sie gerade auf der Queen Elisabeth II aus New York zurück. Kamen die weißen Klippen von Dover in Sicht, so rezitierten die alleinstehenden Mittelbauler aus Oxford oder Cambridge ein paar Verse des von ihnen angehimmelten Matthew Arnold, die ihnen ein vertrottelter Prof beigebracht hatte. Währenddessen verbrachten die Franzosen die Reise damit, sich von den britischen Plebejern fernzuhalten. Die Rentner aus Amiens irrten auf den Gängen umher, mit hocherhobenem Haupt und Weltkriegsorden an der Brust. Die hübschen Demoiselles aus Rouen, die aussahen wie einem Film von Resnais entsprungen, tranken Peppermint und schimpften über die barbarischen Manieren der Kellner in Brighton. Die Kleinkinder aus Chartres starrten auf die kegelförmigen Frisuren englischer Damen und fingen an zu weinen.
    Im Juni war die Zuflucht, die Gabriel und seine Kollegen fanden, um diesem Karneval zu entkommen, ein Tisch im dunkelsten Winkel der Bar gewesen, an dem sie Karten spielten. Diesmal hingegen ließ die Ruhe an Deck auf eine angenehme und zügige Überfahrt hoffen. Um sich zu vergewissern, nahm Gabriel die Leute ringsum in Augenschein. Ein junger Mann kauerte in einer Ecke und las, gegen seinen Rucksack gelehnt. Ein Pärchen fotografierte sich gegenseitig vor Meereshintergrund. Fünf englische Soldaten redeten und rauchten unter einem Schutzdach. Ein allein reisender Herr deklamierte irgendetwas, doch seine Worte verloren sich. Am anderen Ende des Decks streckte Bundó die Beine aus. Ein erster Windstoß, unerwartet und kalt, brachte allen die Haare durcheinander. Gabriel beobachtete das Mädchen, das neben ihm stand, auf die Reling gestützt, in Gedanken versunken. Äußerlich war sie ganz ruhig, doch er sah ihre Wimpern zittern.
    »Bist du nervös?«, fragte er sie. Er hatte nicht bedacht, dass es dafür noch ein paar Stunden zu früh war.
    »Nein. Ja. Also nein, ich bin nicht nervös. Ich habe ein Grummeln im Bauch, aber nervös bin ich nicht. Wohl eher hungrig.«
    »Das wundert mich nicht. Seit wir in Barcelona losgefahren sind, hast du nichts gegessen. Komm, wir gehen runter zur Bar, und du bestellst dir was. Die Sandwiches sind hier … anders.« Fast wäre ihm ein »widerlich« herausgerutscht. »Sie sind nordisch, so wie die Firma, der das Schiff gehört. Mit Butter, Räucherlachs, Gurke, roher Zwiebel …«
    Dem Mädchen wurde schlecht, aber sie sagte nichts. Als einzige Antwort steckte sie sich eine Zigarette in den Mund. Nachdem sie es mit drei Streichhölzern vergeblich versucht hatte, half Gabriel ihr beim Anzünden, indem er einen Kokon mit seinen Händen formte, und er nutzte die Gelegenheit, um auch selbst eine zu rauchen. Sie schwiegen. Der Wind ließ die Zigarettenspitzen aufglühen. Die Möwen flogen in übermütigen Manövern über dem Schiff hin und her.
    »Denk an was anderes«, sagte Gabriel nach einer Weile.
    Auch diesmal erwiderte das Mädchen nichts. Aber immerhin schimmerte in ihrem Gesicht ein halbes Lächeln auf. Während der ganzen Reise hatten Bundó und er ihr jedes Wort aus der Nase ziehen müssen. Gabriel fühlte sich unwohl in dieser Rolle als Begleiter, fast als Vater. Er hasste es, wenn Herr Casellas ihm solche Dienste auferlegte. Das Mädchen hieß Anna Miralpeix, und sie hatte, wie man so sagte, ein Paket in London abzugeben: Die Transportfahrer von La Ibérica nahmen sie mit, damit sie heimlich abtreiben konnte. Sie war in der sechsten Woche, zählte siebzehn Jahre und wollte wie ein Junge aussehen. Klein und hager, kantige Gesichtszüge, gebräunte Haut, das blonde Haar a la garçonne geschnitten, war sie gekleidet, als wäre der Sommer noch nicht vorbei – weiße Hose, weiß-blau gestreiftes T-Shirt, gelbe Regenjacke. Auf den ersten Blick sah sie in diesem Aufzug zerbrechlich wie Porzellan aus und kein bisschen prachtvoll, aber genau das war einer der Modetrends 66 an der Costa Brava. Die Jugend aus gutem Hause versammelte sich auf privaten garden parties oder in den Bars und Tanzlokalen am Strand und delektierte sich am eigenen Lebensüberdruss – an einer gekünstelten Leere, die sie von der tatsächlichen Leere ihrer Zukunft ablenkte. Manchen ganz Unerfahrenen wie Anna Miralpeix geschah es, dass das Spiel sie zu sehr einsaugte und sie mit einem Gemisch aus ungekannten Sinneseindrücken betäubte. Dieses Gemisch bestand stets aus den Versen irgendeines nahestehenden Dichters

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