Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
(Freund der Eltern und dennoch ein Verbündeter), einem französischen Chanson, den Rauchwölkchen im Mondenschein, den Sardinen vom Grill, dem Gelächter, den vergeistigten Gesprächen (es redeten immer dieselben, aber egal), der Lust, mit einem Cabrio umherzurasen, dem Reiz der Enthemmung, der verschwommenen Melancholie am Ende einer Feier und den vage marxistischen Phrasen, die den Höhepunkt jedes Besäufnisses verzierten. Der Alkohol schützte sie natürlich vor der Außenwelt, wie ein Fruchtwasser, in dem sie schwammen und das sich Abend für Abend erneuerte.
Wenn die Sommerferien vorbei waren, ging das Partyglück in Barcelona weiter. Nur wer besonderes Pech hatte, bekam im September die Quittung. Und so war die Sünde bekannt geworden im Hause Miralpeix, gerade mal eine Woche zuvor. Die ersten Unterrichtstage gingen für Anna einher mit einer Abfolge von Nervenzusammenbrüchen, Schwindelanfällen und Erbrechen. Ein galizisches Hausmädchen, das aus einem zerwühlten Bettlaken die Zukunft lesen konnte, hatte die Hausherrin auf die Fährte gebracht. Noch am selben Tag schleppte sie ihre Tochter zum Familienarzt, um zu sehen, ob sie in Erwartung war. »Sie erwartet, sie erwartet, die Kleine erwartet«, bestätigte der Doktor. Auf dem Heimweg, im Taxi, fragte die Mutter Anna, wer der Vater, der Schuldige, sei. Drohte etwa großes Unheil? Gerade war der Roman Letzte Tage mit Teresa erschienen, und in den reichen Vierteln Barcelonas grassierte die Paranoia. Anna schüttelte den Kopf. Sie würde den Namen nicht preisgeben. Wenn sie an ihn dachte, hatte sie sofort wieder den klebrigen Bitterorangengeschmack von Licor 43 im Mund. Damit war für die Mutter alles klar. Die lautlose Maschinerie wurde in Gang gesetzt, um den Fehltritt zu bereinigen. Der Arzt schrieb einen Brief auf Englisch (den dritten in diesem Herbst). Frau Miralpeix wies ihren Mann in seine Schranken: »Das Mädchen ist das Mädchen!« Herr Miralpeix kannte aus dem Reitklub jemanden, der sich in gleichartiger Notlage einem Herrn Casellas anvertraut hatte. Ein Anruf. Nein, kein Anruf, ein persönlicher Besuch. Dunkle Brillengläser. Referenzen. Scharwenzeln von Casellas. Zufällig war für die kommende Woche eine Umzugsfahrt nach England angesetzt. Wäre das noch rechtzeitig, oder müsste man das Ganze vorziehen? Gleich nach dem Treffen führte Rebeca, die Sekretärin von La Ibérica, mehrere Telefonate mit einem Krankenhaus in London.
Sie wurden dort erwartet.
Während des gesamten Vorgangs hatte niemand auch nur fünf Minuten mit der Frage verbracht, was eigentlich Anna dachte. Auch nicht sie selbst. Der Eifer, mit dem alle auf die Lösung des Problems hinarbeiteten, hatte ihr keine Wahl gelassen. Wäre sie vier Jahre älter gewesen, hätte sie vielleicht protestiert, aber mit siebzehn und aus gutem Haus, was willst du machen? In die Watte dieser Wirklichkeit verpackt, reiste Anna Miralpeix ohne große Sorgen nach London. Wenn sie nervös war, dann aus anderen Gründen: Sie spürte – und es fühlte sich an wie Prüfungsangst –, dass die körperliche und seelische Narbe, die eine Abtreibung hinterließ, ihr im Freundeskreis zu einer neuen Führungsrolle verhelfen würde, und sie fürchtete, darauf nicht hinreichend vorbereitet zu sein.
Die elend lange Reise im Lkw – fünfzehn Stunden – und nun die Überfahrt bildeten einen epischen Rahmen, der ihr half, sich für diese Zukunft zu wappnen, und in den sie sich später auch würde zurückflüchten können. Im Mittelpunkt des Abenteuers aber standen ihre Begleiter, Bundó und Gabriel. Petroli war in Barcelona geblieben, damit das Mädchen im Pegaso Platz hatte. »Gerettet von der Arbeiterklasse!«, dachte sie. Diese Männer trugen Pullover, die vom Möbelschleppen halb zerfetzt waren, rauchten Ducados, tranken Bier aus der Flasche! Man kann sagen, dass die beiden ihr sympathisch waren und eine große anthropologische Faszination auf sie ausübten. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Bei einer Esspause an der Autobahn hatten sie die Kleine so bleich und müde gefunden, dass Bundó im Laderaum Platz schaffte, um eine der Matratzen aus der Fuhre auszulegen, und sie sie dort drinnen eine ganze Stunde schlafen ließen. Solche Details, für die Fernfahrer ganz unspektakulär, gaben der Reise der Anna Miralpeix ihr besonderes Flair.
»Macht ihr das sehr oft, Manuel – schwangere Mädchen fahren?«, fragte sie, nachdem sie ihren Zigarettenstummel ins Meer geschnippt hatte. Es wollte ihr nicht gelingen,
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