Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
meinen Fingerspitzen. Warum erzähle ich das alles, Christofs? Weil es diese Sonntage waren, allein daheim mit dem Monsterkater, an denen mich das Fehlen des Vaters am meisten bedrückte.
So war ich. In etwa. Seit wir uns kennen, versuchen wir ja herauszufinden, was uns verbindet, um auf diese Weise irgendwann da anzukommen, wo er ist. Die Wahrheit ist aber, es gibt viel mehr, was uns trennt, als was uns verbindet. Da sind wir uns einig, oder? Das ist ja auch nicht schlimm, und es soll auch nicht heißen, dass ich mich irgendwie verweigere. Für mich sieht es so aus: Wir sind vier Menschen, die das Schicksal in einem bestimmten Moment zusammengeführt hat. Als würden wir zusammen im Fahrstuhl feststecken, reden, um uns von unserer Angst abzulenken, und dabei auf eine gemeinsame Vergangenheit stoßen. Unsere Leben sind ein Unfall. Unser Vater ist der Unfall. Bedenkt, von uns vieren bin ich der, der ihn am seltensten gesehen hat. Die paar Male könnte ich an den Fingern abzählen, und beim letzten Mal war ich vier Jahre alt. So jung, dass ich mich nicht mal dran erinnern kann.
Dass La Ibérica auf die Inseln fuhr, war die große Ausnahme. Welcher Diplomat wollte in den Sechzigern schon in Großbritannien leben? Nebel, langhaarige Jugendliche … London ging vielleicht noch, aber Manchester, Liverpool, Southampton? Städte aus Ruß und Rost, die auf der Landkarte der besseren Gesellschaft gar nicht verzeichnet waren. Und Buckingham Palace und all die Lordschaften – unerreichbar, als gehörten sie einer anderen Zeit an. Die höheren spanischen Beamten, die durch das englische Fegefeuer mussten, zogen es vor, ihre Familie zu Hause zu lassen und sich in Belgravia bei einer aus Tradition unsympathischen Kriegswitwe mit militärischen Tagesabläufen einzumieten. Ich glaube, Mr. Casellas war es ganz recht so. Die Umzüge nach Großbritannien nahmen zu viele Arbeitsstunden in Anspruch, die Versicherung wurde teurer, wenn die Reise übers Meer ging, kurzum: Es lohnte sich für ihn nicht. Anfang 1964 allerdings schloss sich die norwegische Reederei Thoresen mit der englischen Townsend zusammen, und gemeinsam eröffneten sie eine neue Fährverbindung über den Kanal. Rasch verbreitete sich die Nachricht, dass die Überfahrt von Calais nach Dover nun viel schneller, sicherer und zugleich billiger war, und da hörte auch Mr. Casellas auf, sein Schweinsnäschen zu rümpfen, wenn ihn jemand mit einem Umzug in die britischen Gefilde beauftragen wollte. Hinzu traten natürlich auch wieder Erwägungen anderer Art, wie ihr gleich sehen werdet.
Zuvor will ich aber kurz auf das letzte Mal zurückkommen, das ich unsern Vater sah, im November 1971. Sein Besuch von der Dauer eines kompletten Wochenendes – von Samstagmittag, nach dem Möbelentladen, bis Montag früh – begann mit einem Geschenk. Er kam herein, legte mir die Hand in den Nacken, um mich abzuküssen, und überreichte mir einen Globus. Der sollte von innen beleuchtet sein, aber wir konnten ihn nicht anstellen, weil der spanische Stecker nicht in unsere Steckdose passte. Außerdem hatte er einen Riss, der Italien in eine Mittelmeerinsel verwandelte (Umzug Nummer 192, Barcelona–London). Dass das größte Geschenk für mich seine Anwesenheit war, kam dem Vater gar nicht in den Sinn. Am Samstagabend, um mich vom Essen abzulenken, kam er mit dem Globus an und zeichnete mir mit dem Finger die Strecke nach, die er mit Bundó und Petroli bis nach London Fields gefahren war. Der Anblick des vom Tabak gelblichen Fingers auf seinem Weg über die Länder faszinierte mich. Die Pyrenäen, Perpignan, Saint-Étienne, die Rhône, Lyon, Dijon, die Seine, Paris, Calais … Da ich sie zum ersten Mal hörte, dazu in der katastrophalen Aussprache des Vaters, klangen die französischen Worte für mich wie Namen aus einem Fantasieland. Ich stellte mir wer weiß was vor. Und plötzlich hielt der Finger an, an der französischen Nordküste. Der Vater machte Windgeräusche, ahmte auch den Regen nach und die vom Sturm aufgewühlten Wellen, und bewegte den Finger ganz langsam über den schmalen blauen Wasserstreifen.
»Wenn du genau hinschaust«, sagte er mir mit sehr ernster Stimme, »dann kannst du uns sehen, wie wir den Kanal auf einer Fähre überqueren.«
»Was ist eine Fähre?«
»Eine Fähre ist ein sehr großes Schiff, das Menschen, Autos und Lastwagen tragen kann. Unsere Fähre hier heißt Viking III. Merk dir diesen Namen gut, Chris. Wenn du mich vermisst, nimm dir die Lupe, die ich
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