Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Zittern das Schiff, bei dem Anna wieder schlecht wurde. Milchkaffee und Madeleine standen unberührt vor ihr auf dem Tisch. Sie steckte sich eine weitere Zigarette an. Von fern sah sie die vier Männer in ihr Spiel vertieft. Sie teilten neu aus und machten ihre Einsätze. Allzu schnell glitten die Karten dann über die Resopalplatte. Im Jahr 1966 war ein Franc für einen spanischen Fernfahrer viel Geld. Gabriel und Bundó sondierten noch das Terrain, hielten ihre Einsätze niedrig. Monsieur Champion hatte die steife Haltung eines Adligen in Monte Carlo angenommen, spielte mit gestrecktem Hals, gerecktem Haupt, Zigarre im Mund; dabei sah es aus, als hätte er gar keine Freude am Rauchen, sondern täte es nur, um die Luft zu verpesten. Ibrahim beschränkte sich darauf, die Anweisungen seines Herrn zu befolgen. Er ging nur bei dessen Einsätzen mit, doch wenn sie die Runde verloren, gab Champion ihm die Schuld.
»Nom de Dieu! Que tu es simple, mon Ibrahim! Quel gaspillage!«
Eine Ladung Wasser klatschte gegen das Fenster und zerhackte Anna die Aussicht, so als wäre die Scheibe gesplittert. Sekunden später riss ein Aufheulen der Lautsprecher die Spieler aus ihrer Versenkung. Erst auf Englisch, dann auf Französisch gab der Kapitän bekannt, dass die Fähre in ein Unwetter geraten sei. Man müsse in südlicher Richtung ausweichen, und die Überfahrt verlängere sich dadurch um mindestens eine Stunde. Man bedauere die Unannehmlichkeiten, deren Ursache in den widrigen klimatischen Bedingungen des Kanals liege und sich somit dem Einfluss der Reederei entziehe, und man empfehle den Reisenden, sich die Zeit mit dem Serviceangebot der Viking III zu vertreiben.
Als Reaktion auf die förmliche und gelangweilte Stimme ergriff ein Strudel das Schiff und riss es in die Höhe. Diesmal war der Stoß fürchterlich. Für einen Moment setzte die gesamte Beleuchtung aus, die Passagiere kreischten im Chor. Ein Klirren von zerschmetterndem Geschirr. Der Milchkaffee rann über den Tisch, und Anna versuchte, den Brechreiz mit Papierservietten zu bändigen. Die vier Spieler zeigten alle den gleichen Reflex: In einer Hand die Karten, hielten sie mit der anderen ihr eingesetztes Geld fest. Trotzdem gingen drei oder vier Münzen von Bundó zu Boden und rollten davon. Der Engländer, der zuvor an Deck Selbstgespräche geführt hatte, fand indessen Halt am Treppengeländer und begann laut, Shakespeare zu rezitieren.
»Down with the topmast! Yare! Lower, lower!«, rief er und gestikulierte dabei, als wollte er Menschenmassen lenken. Es waren die Worte des Bootsmanns am Beginn von Der Sturm.
»Kommen wir viel zu spät an?«, fragte Bundó, die Münzen in der Hand. »Wann wird die Tochter aus gutem Hause denn erwartet?«
»Im Krankenhaus erst heute Abend. Die Operation ist morgen früh. Wir haben massig Zeit.«
Wieder machte die Fähre seltsame Bewegungen, nicht so heftig wie beim vorigen Mal, dafür ohne jede Vorwarnung, so, als wäre sie auf dem Wasser ins Schleudern geraten. Der Schauspieler legte noch an Lautstärke zu: »A plague upon this howling!«
Monsieur Champion teilte die Karten mit dem Anflug eines Lächelns aus. Er hatte eine saftige Runde gewonnen, mit einem Bluff, bei dem ihm die Fernfahrer nicht auf die Schliche gekommen waren. Ibrahim aber rutschte schon seit einer Weile nervös auf seinem Stuhl hin und her und wagte es schließlich, sich zu erheben.
»Ich geh mal kurz runter und schaue nach Sans Merci. Ich habe Angst, er …«
»Hiergeblieben, Ibrahim!«, befahl der Franzose. »Setz dich hin. Sans Merci ist an solche Erschütterungen gewöhnt, und zwar mehr als du oder ich. Er hat das im Blut. Zu Revolutionszeiten stand ein Vorfahr von ihm im königlichen Kaleschendienst. Außerdem haben wir gerade eine Glückssträhne und müssen sie nutzen. Das sind uns diese Spanier schuldig.«
Bundó eröffnete mit einer schüchternen Pesete. Ibrahim fügte sich seinem Herrn und griff mechanisch nach den Karten. Doch in Gedanken war er weiter im Laderaum. Er stellte sich vor, wie das Pferd sich mühsam aufrecht zu halten versuchte in seiner engen eisernen Box, aufgebracht und schweißüberströmt wie vor dem Startschuss auf der Rennbahn. Bloß dass es hier keine Bahn gab, auf der es sich dann austoben konnte.
»Lay her a-hold! A-hold! Set her two courses; off to sea again; lay her off.«
Der Schauspieler hatte die Stimme gesenkt, fuhr aber mit seiner Darbietung fort. Ein gleichmäßiges, geradezu harmonisches Gemurmel erfüllte
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