Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Hindugottheit waren Raymond vier zusätzliche Arme und ein Elefantenrüssel gewachsen. Er spielte Gitarre, doch anstatt von Musik entströmte dem Instrument ein goldenes Licht, in der Farbe des Glücks, das er selbst mit seinem Rüssel einatmete. Neben ihm erbleichte der entrückte Ludovic immer mehr, bis er schneeweiß und zweidimensional war. Auf jedem Teil seines Körpers und jedem seiner Kleidungsstücke stand eine Zahl geschrieben, Anna brauchte sie nur zu lesen und wusste, welche Farben sie ihnen mit einem aus Augen gemachten Pinsel zu geben hatte. Während er auf diese Weise immer bunter wurde, weinte Ludovic vor Freude, und die Tränen benetzten seine Hose. Da spross ihm zwischen den Beinen ein Blumenpenis in die Höhe, pompös und bedrohlich wie eine fleischfressende Pflanze. Weiter entfernt sah Anna den Schauspieler als fluoreszierendes Gerippe, das mit seinem Schädel in der Hand Hamlets Monolog rezitierte, und die vier Kartenspieler: Sie waren nun zu fünft, ein Neugeborenes mit violetter Haut hatte sich zu ihnen gesellt und rauchte eine Zigarre, und alle trugen mittelalterliche Gewänder und hielten einander beim Spielen an den Händen.
Die erste Welle war vorüber, Anna und die beiden Brüder gewöhnten sich an die neue Wirklichkeit. Die ständigen Bewegungen des Schiffs und das Sturmgewitter draußen auf dem Kanal hatten sich für sie in wagnerianische Musik verwandelt. Die Weltmuschel umschloss sie mit mütterlicher Wärme. Und plötzlich, mit einem der Stöße, die durch die Fähre gingen, blickte Anna auf ein mitten in der Bewegung erstarrtes Pferderennen in der Luft; und all ihre Gedanken zogen sich zusammen, richteten sich auf ein Vollblut mit wehender Mähne. Mit visionärer Klarheit erkannte sie, was ihre Mission an Bord der Viking III war: Sie musste das Pferd befreien, das in seiner Box vor Kummer verging. Sie erhob sich, küsste die Brüder auf die Stirn, dehnte die Silberfäden, die sie mit ihnen verband, und erklärte, sie müssten ein Pferd namens Sans Merci suchen und es zur englischen Küste bringen. Die Franzosen folgten ihr verdattert.
Exeunt personae.
Inzwischen hatten Gabriel und Bundó am Pokertisch eine blutige Niederlage nach der anderen einstecken müssen. Die Glückssträhne von Monsieur Champion und Ibrahim ließ sie schon fast nackt dastehen. In Peseten mochte es keine riesige Summe sein, doch in Francs umgerechnet war es für sie eine Katastrophe. Zudem überschüttete der Franzose die Fernfahrer nach jeder gewonnenen Runde mit seinem Hohn, unter Ibrahims lautem Gelächter. Gabriel, der die Psychologie des Spielers beherrschte wie wenige andere, vermutete schon seit einer Weile, dass hinter diesen Ausbrüchen eine Lust am Bluffen stand, aber er kam ihm nicht auf die Schliche. Keine Geste, die sich ständig wiederholte, keine Besonderheiten beim Atemholen, dabei ließ sich bei jedem Kartenlügner zumindest irgendein winziger Tick aufspüren, den er nicht unter Kontrolle hatte.
Bundó war doppelt beunruhigt. Erstens, weil ihn ein mieses Blatt nach dem anderen ereilte, und zweitens, weil Gabriel noch immer nicht um eine Toilettenpause gebeten hatte. Sie spielten vier weitere Runden. Die erste ging an Gabriel, doch nach den drei folgenden, die der Franzose und sein Bursche einsackten, wirkte sie wie ein unwürdiges Almosen. So wie er es auf der Überfahrt im Juni gemacht hatte und wie er es immer machte, erhob Gabriel sich nun vom Stuhl und entschuldigte sich für einen Gang zu den Waschräumen. Monsieur Champion musterte ihn von oben bis unten und nickte dann mit einem Blick, als würde er im letzten Moment eine Hinrichtung absagen.
Was Gabriel vorhatte, war klar. Sich in der Toilette einschließen und ein paar Karten unter die Nähte seiner Hemdsärmel schieben. Zwei Asse, einen König, eine Dame, maximal. In der Partie war das Pik-Ass noch nicht gefallen? Dann würde er es im richtigen Moment beisteuern. Mogeln war auch eine Kunst.
Erst als er ein paar Schritte getan und den Mikrokosmos des Kartentischs hinter sich gelassen hatte, merkte Gabriel, dass die Fähre in einen Orkan geraten war. Ihm wurde schwindelig, und fast wäre er gestürzt. Sie hatten Raum und Zeit vergessen. Er hielt sich an einem Stuhl fest, blickte auf die Uhr und sah, dass sie schon seit fast zwei Stunden spielten. Als er an dem Schauspieler vorbeikam, spie der ihm ein paar Worte des alten Prospero ins Gesicht: »No more amazement: Tell your piteous heart there’s no harm done.«
Da er ihn nicht
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