Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
das Wort hatten, verfochten sie die sexuelle Befreiung als einzigen Ausweg. ›Hören wir auf zu diskutieren und fangen wir an zu ficken!‹, riefen sie und zogen sich dabei die Pullis aus, aber kein Mädchen machte mit, das waren ja nur Spinner. Es gab die Marxisten, die Trotzkisten, die Anarchisten, die Kommunisten, die Textualisten und die Weißderteufelisten. Jeder Redebeitrag hatte neue Abspaltungen zur Folge. Eine Handvoll Teilnehmer erklärte sich zu Situationisten und forderte, als Erstes müssten sich Kleingruppen bilden und in die Betriebe gehen, um dort den Arbeitern die Lage bewusst zu machen, sonst werde das alles nirgendwohin führen. Jeder, der wolle, sagten die einen, könne Guy Debord persönlich kennenlernen. Da erwiderten ihnen andere: Warum sollen wir uns mit Debord treffen, wenn wir die Beauvoir haben? Und wieder jemand schrie: Beauvoir? Beauvoir und Sartre? Weg damit! Es lebe der anarchistische Surrealismus! Vielleicht war es auch umgekehrt, der surrealistische Anarchismus. Unter die Studenten gemischt, sah ich einige Professoren. Sie hörten sich das Durcheinander mit ungläubigen Gesichtern an. Zwei Jungen mit englischem Akzent entrollten ein Spruchband, das den amerikanischen Präsidenten beleidigte, das war damals ein Fiesling namens Johnson oder so, und verlangten mehr internationalen Druck gegen den Vietnamkrieg. Da applaudierte der ganze Saal, und die beiden reckten stolz die linke Faust hoch, was ihnen dann für einen Moment alle anderen nachmachten. Nachdem wir uns also zwei Stunden lang derart vergnügt hatten, löste die Versammlung sich auf, ohne konkretes Ergebnis, soweit ich mich erinnere, aber mit dem Gefühl, wir hätten alle gemeinsam die Welt verändert oder es zumindest versucht. Damals hätten wir uns nicht einmal träumen lassen, was wir vier Monate später schafften. Beim Rausgehen wurde mir bewusst, dass ich zum ersten Mal einen Kurs geschwänzt hatte, und ich kam ganz verwandelt zurück in die Pension. Ich hatte mit niemandem gesprochen, nur zugehört, aber das reichte, um mich gründlich aufzurütteln. Ich weiß noch, dass ich mich im Bad einschloss, mir das Gesicht mit kaltem Wasser abwusch, in den Spiegel sah und einen Schrei ausstieß, halb aus Wut, halb aus Überschwang. Eine Mitbewohnerin klopfte an die Tür und fragte, ob mir etwas passiert sei. Nein, nichts, sagte ich ihr. Oder alles. Aber das hörte sie nicht mehr, das sagte ich ganz leise.«
Hier steckte sich meine Mutter eine neue Gauloise an und nahm einen tiefen und theatralischen Zug, um ihre Erinnerung zu beleben, ehe sie fortfuhr.
»Beim Abendessen kamen mir die Mädchen aus der Pension wie tote Fliegen vor, reglos und unschuldig, wie mein eigenes Spiegelbild. Ich schlang das Essen hinunter, ohne ein Wort zu sprechen, und verzog mich in mein Zimmer. Da las ich ein paar Seiten aus einem Roman von Gide, um den es gerade im Kurs ging, ich glaube, es war Les Caves du Vatican, doch ich war nicht bei der Sache, meine Gedanken verloren sich in unzusammenhängenden Ideen. Ich musste sie irgendwie bändigen. Ich zog mir den Schlafanzug an, löschte das Licht und wartete, kein bisschen müde, dass sie sich von selbst ordnen würden. In dieser kompakten Dunkelheit konnte ich nicht vermeiden, dass mir meine Eltern in den Sinn kamen. Ich begann sie als Opfer der Verhältnisse zu sehen. Sie lebten in einer Wirklichkeit, die ihnen geraubt worden war, verfälscht von de Gaulle und seinen Leuten. Das ganze Leben lang rackerten sie sich ab und ließen sich einreden, dieses beschissene Dasein, das ihnen nach dem Krieg beschieden war, würde ihnen tatsächlich gefallen. Ich erkannte meinen Vater als einen der unzähligen armen Trottel, die im Land herumliefen und nur bei Staatsfragen in Wallung gerieten – vor allem durfte man ihm sein Frankreich nicht antasten und seinen göttlich verehrten Fabrikherren –, und meine Mutter als eine stumpfsinnige Komparsin, die immer bedingungslos auf seiner Seite stand. ›Nie mehr wird es uns so gut gehen wie jetzt‹, pflegte sie zu sagen, sobald sich irgendeine familiäre Erschütterung ankündigte. Und diese Erschütterungen waren minimal. Die blöde Phrase hallte mir im Kopf wider und deprimierte mich zutiefst. Hauptsache, alles blieb, wie es war, Hauptsache, die Zukunft behelligte einen nicht. Mir wurde klar, dass sie schon fast alte Leute waren, vorzeitig vergreist, und diese Erkenntnis lag mir wie Blei im Magen. Es war der gleiche Schmerz, wie wenn sie mir mit kläglicher,
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