Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
ist Schweigen. Ebendieses Schweigen, das wir uns hier gemeinsam erträglich zu machen versuchen.
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D IE W ELT IST SCHLECHT AUFGETEILT
Christophe ist an der Reihe
Ich sage – und lasst es mich als Titel für dieses mir zustehende Kapitel setzen, denn es ist so wahr –: Die Welt ist schlecht aufgeteilt, Christofs. Von uns vieren dürfte ich derjenige sein, der am häufigsten das Vergnügen des väterlichen Besuchs gehabt hat, und wohl auch derjenige, der die meisten gestohlenen Geschenke abbekam. Paris lag bei den Umzügen immer auf halber Strecke. Mit mir konnte er reden, weil sein Französisch ganz gut war. Welch ein Privileg! Aber mir ist von all dem kaum etwas im Gedächtnis geblieben. Zwischen meiner Geburt im Februar 1969 und dem letzten Mal, dass ich ihn sah, liegen keine drei Jahre. Das ist zu wenig. Was ich davon weiß, verdanke ich den Erzählungen meiner Mutter oder alten Fotos, die wir noch haben. Es sind eher Eindrücke als echte Erinnerungen. Einmal ließ ich mich, weil meine Mutter mich dazu drängte, auf eine Sitzung in regressiver Hypnose bei einem argentinischen Psychoanalytiker ein, der an der Porte d’Italie wohnte und eine Art Geliebter von ihr war. Ich wollte zurückreisen in meine ersten drei Jahre und das früheste Bild ausgraben, das ich von meinem Vater hatte. Ich entspannte mich auf der Couch und spielte die ganze Zeremonie mit. Mit leiser Stimme zählte ich rückwärts von hundert. 99, 98, 97 … Nach einer Weile war ich so gut wie eingeschlafen und versuchte, wie ein Perlentaucher in die Tiefen meines Unbewussten vorzudringen. Aber dann kam ich doch nur mit leeren Händen und Orientierungsschwierigkeiten wieder hoch. Keine geheime Erinnerung, kein Traum, kein unbekanntes Bild, das sich hätte einfangen lassen. Ich tauge für solche Experimente nicht.
Nun erlaubt mir eine Spekulation. Ich war das erste Kind, das Gabriel sich wirklich wünschte. Das rechne ich mir wohlgemerkt nicht als Verdienst an. Den ersten von einer alleinstehenden Mutter geborenen Christof können wir als Unfall betrachten, den zweiten als Achtlosigkeit (bitte entschuldige, Chris). Der dritte aber muss das Ergebnis einer Willensentscheidung sein. (Der vierte Christof, in Barcelona, geht noch darüber hinaus und kommt als Frucht einer Obsession zur Welt, aber er wird ja hier auch noch seinen glanzvollen Auftritt haben und es selbst erzählen.) Dieser Wunsch, mich zur Existenz zu bringen, löste sich dann aber bald zwischen dem realen Vater – einem Gabriel, der bei uns erschien, wann es ihm passte – und vier Pseudovätern auf, die durch Akkumulation und Übermaß meinen Kompass der Familienzugehörigkeit untauglich gemacht haben. Seht ihr, wie schlecht die Welt aufgeteilt ist? Während ihr die längste Zeit allein mit euern Müttern wart, sie löchertet, wo der Vater hin sei, und surrealistische Ausreden zu hören bekamt, hatte ich gleich vier, die ihn ohne Scheu zu ersetzen versuchten. Es wäre also für jeden von uns einer dabei gewesen. Heute, als Erwachsener, bin ich sicher, dass diese vier Freunde meiner Mutter mich wirklich fast wie einen eigenen Sohn geliebt haben, aber vor den Momenten, in denen ich mich im Stich gelassen fühlte, konnten sie mich nicht bewahren. Ihr kennt das ja, Christofs, wir haben schon mehrmals darüber gesprochen: diese bedrückende Einsamkeit, die uns manchmal überkam, als hätte das Leben uns gekündigt, und die sich einzig (und auch das nur mit Glück) durch die Zuwendung der Mutter vertreiben ließ – oder eben durch die seltene Ankündigung, dass der Vater zu Besuch komme. Selbst als klar war, dass er nie wieder kommen würde, und ich mich vergeblich bemühte, ihn zu vergessen, stiegen die vier anderen nicht in eine höhere Kategorie auf: An sie denke ich heute gar nicht mehr. Es muss etwas Genetisches sein.
Vielleicht kommt euch das, was ich hier erzähle, befremdlich vor. Es sei also hinzugefügt, dass meine Mutter damals in einer Art Studentenkommune im Quartier Latin wohnte. Mireille war zwanzig Jahre alt, hatte den Kopf voller Flausen und studierte – wie man so sagt – im zweiten Jahr Französische Literatur an der Sorbonne. Mit achtzehn war sie nach Paris gekommen, aus einem Dorf in den Ardennen, nahe der belgischen Grenze. Es war das vierte Mal in ihrem Leben, dass sie in die Hauptstadt reiste. Als Musterschülerin ihres Gymnasiums wurde sie an die Universität geschickt wie eine Erntekönigin, die eine ganze Region repräsentieren sollte. Sie sagt, dass man
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