Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
öffnete, sah er die Wölbung unter ihrem Kittel und wusste, ohne nachrechnen zu müssen, dass er der Vater war. Nun, da er schon Erfahrung hatte – zu der Zeit konnte Christof in Frankfurt bereits laufen und nannte ihn Papa –, nahm er es gelassener hin. Es ist Schicksal, sagte er sich. Und natürlich meine gesegnete Treffsicherheit. Während der gesamten Überfahrt blieben Sarah und er im Krankenzimmer eingeschlossen, erst redeten sie, dann unterzeichneten sie wieder Papiere. Sarah, der die Aussicht, alleinerziehende Mutter zu werden, keine Angst machte, erklärte, sie wolle das Kind haben, aber von ihm verlange sie nichts. Gabriel bat sie nur um einen Gefallen: dass er sie ab und zu besuchen dürfte. Ach, und er würde gern den Namen für das Kind aussuchen. Wenn es ein Mädchen sei, solle es Anna heißen, so wie das Mädchen, das sie das zweite Mal in diesem Krankenzimmer zusammengeführt hatte, und wenn es ein Junge sei, Christopher.
»Wieso Christopher?«
»Wieso nicht?«, so seine rätselhafte Antwort.
Meine Mutter sagte, sie werde es sich überlegen, und im Stillen entschied sie, dass dieses Rätsel ihr gefiel.
Als Gabriel das nächste Mal nach London kam, arbeitete Sarah nicht mehr auf der Fähre, denn sie war im Mutterschutz. Einen Monat zuvor, im Juli 1967, war ich geboren worden. Sie hatte den Vater in der Pension angerufen, um ihm die frohe Kunde mitzuteilen, und er hatte versprochen, sehr bald zu Besuch zu kommen. Hätte er das auch getan, wenn das Kind ein Mädchen gewesen wäre? Das sollten wir annehmen, aber sicher wissen können wir es nicht. Jedenfalls hat diese Reise in den Geschäftsunterlagen von La Ibérica keine Spuren hinterlassen. Am letzten Julimontag, als man sich darauf vorbereitete, den Betrieb wie üblich für den ganzen August dichtzumachen, redete er so lange auf die Sekretärin Rebeca ein, bis sie ihm hinter Herrn Casellas’ Rücken die Schlüssel des neuesten DKW gab. Noch am selben Abend, ohne Fracht und ohne Begleitung, tankte er voll und fuhr los, nach Norden.
Etwa in der Mitte der Schwangerschaft war Sarah aus einer mit anderen Krankenschwestern geteilten Wohnung in ein Erdgeschoss der Martello Street umgezogen, hinter den Bahngleisen, nahe der Station Hackney. Dort erschien mein Vater an jenem Dienstagnachmittag, frisch wie eine Rose. Er hatte angerufen, sobald er in Dover von der Fähre war, meine Mutter und ich warteten dann stundenlang vor dem Haus auf ihn und zählten die Züge, die vorbeifuhren. Der Vater nahm mich gleich auf den Arm, mit einer Geschicklichkeit, die Sarah verblüffte, und flüsterte mir meinen Namen ins Ohr: Christopher … Welch ein Jammer, dass solche Erinnerungen nur in einem unzugänglichen Teil meines Gehirns überdauern, hinter Schloss und Riegel! Wie gern würde ich auf meine eigenen Eindrücke zurückgreifen können, anstatt nur auf das, was meine Mutter mir erzählt hat. Gabriel blieb sechs ganze Tage lang bei uns, sechs Tage – das ist Rekord! Jedenfalls, Christofs, war es die längste Zeit am Stück, die wir je zusammen verbracht haben. Anfang August kriegte London noch ein paar Reste vom Sommer ab, und die haben wir weiß Gott genutzt. Jeden Tag gingen wir in den London Fields spazieren. Während ich im Kinderwagen schlief, machten die zwei auf dem Rasen Picknick, und Gabriel versuchte, die Abläufe einer Cricketpartie zu begreifen, die ein paar Leute im Park spielten. Am frühen Abend, bevor sie mich zu Bett brachten, gingen wir ins Pub, und sie tranken ein Stout. Es waren Ferien, die Stunden zogen sich in die Länge. Ich stelle mir gerne vor, dass der Vater in dieser Woche etwas von der Geborgenheit zu ahnen begann, die einem eine gleichförmig verlaufende Zeit bieten kann. Bloß zu ahnen, sage ich – denn am sechsten Tag beim Frühstück eröffnete er meiner Mutter, dass er am Abend wieder nach Barcelona aufbrechen werde. Er brachte keine Entschuldigung vor, und Sarah verlangte keine Erklärungen. Fröhlich und unschuldig, nicht ahnend, was für ein Privileg für uns in diesem Moment endete, sahen meine Mutter und ich dem davonrollenden Lieferwagen hinterher.
Heute wissen wir, dass Gabriel damals nicht direkt nach Barcelona zurückreiste, sondern über Frankfurt fuhr, um dort für vier Tage Sigrun und Christof zu besuchen. Es fühlt sich seltsam an, denn mit der Aufdeckung der Lüge geht ein sofortiges Verzeihen einher. So ist es wohl unter Brüdern, was, Christofs?
Und wie der Schauspieler auf der Fähre gesagt hätte: Der Rest
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