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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jordi Punti
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ihr vorher im Rathaus eine Abschiedsfeier ausgerichtet hatte, mit Kapelle und ein paar Behördenvertretern aus der zweiten Reihe, und da hatte sie zwei Gedichte auswendig vorgetragen, ein sehr düsteres von Apollinaire, dann zum Ausgleich eins von Prévert. Ein Stipendium vom Département erlaubte es ihren Eltern, sie in einer Pension für Studenten in der Rue Vaugirard einzumieten, an der Ecke zum Boulevard Raspail. Von dort konnte sie zu Fuß zur Uni gehen, wie auf dem Dorf. Am Samstag vor Beginn des Studienjahres hatten sie sie nach Paris begleitet und dann bis Weihnachten von ihr Abschied genommen. Weil sie ihr einziges Kind war, vermissten sie sie oft und trösteten sich mit einem behaglichen Bild: Sie stellten sie sich in dem Zimmer vor, das sie gesehen hatten, am Ecktisch in ihre Bücher oder Aufzeichnungen vertieft, sich eine Strähne ihres langen Haars um den Finger wickelnd, oder abends im Esszimmer mit anderen Mädchen, die den gleichen Gesichtsausdruck hatten wie sie. In Wirklichkeit lebte Mireille nur fünf Monate in der Pension. Anfang 1968, nachdem sie Weihnachten bei den Eltern verbracht und einmal mehr festgestellt hatte, dass die dörfliche Ruhe ihr den Atem nahm und sie schwermütig machte, ging sie zu ihrer ersten Studentenversammlung, und damit änderte sich ihr Leben. Sie hat es mir selbst geschildert, mit dieser Energie, die manchmal aus ihr herausbricht, sodass es kein Halten gibt:
    »Weißt du, als ich nach Paris kam, war ich wie ein Streichholz, das man nur anzünden musste. Ich hatte den Kopf voller hochtrabender Gedanken. Als Jugendliche hatte ich viel gelesen, das half mir beim Alleinsein, also beim Überleben, aber begriffen hatte ich eigentlich noch nichts. Ich hatte mir nur alles gefräßig in den Kopf hineingestopft, um nicht an das denken zu müssen, was mich umgab. Es gibt nichts Schlimmeres als die Isolation in der Provinz, wenn man nicht bereit ist, sich damit abzufinden, nichts Schlimmeres als einen Winterabend daheim, mit den gekünstelt sympathischen Stimmen vom Lokalradio. Ich schwöre dir, da trocknet dir vor Einsamkeit die Haut aus. Was für ein Glück, dass du das nicht erleben musstest, Christophe!«
    Und dabei gestikuliert sie mit ihrer brennenden Zigarette in meine Richtung, das ist typisch für sie, ein Überbleibsel aus der Zeit der großen Diskussionen und Debatten.
    »Dein Großvater arbeitete, wie du weißt, als Schreiber für eine Möbelfabrik. Wenn er abends eine halbe Stunde freihatte, schloss er sich in der Werkstatt ein und bastelte kleine Modellautos oder -züge. Manche davon schenkte er den Söhnen des Möbelfabrikanten. Ich hatte immer den Eindruck, er wäre glücklicher, wenn ich ein Junge gewesen wäre. Deine Großmutter war Hausfrau und litt. Sie litt an allem und an allen. Und ohne es mir klarzumachen, litt ich mit ihr. Als ich dann in Paris war, ging ich am liebsten auf den großen Boulevards spazieren. Montparnasse, Saint-Germain, Raspail … kilometerlang. In den weiten Räumen verflog mein Leiden nach und nach. Ich liebte es, wie die Autos das Straßenpflaster vibrieren ließen, ich konnte frei atmen, und obwohl ich alleine war – oder gerade weil ich alleine war –, ergab das alles einen Sinn. Und an einem Januartag, halb zufällig oder eben schicksalhaft, ging ich zu dieser Studentenversammlung meiner Fakultät. Eigentlich wollte ich nur die Zeit zwischen zwei Kursen überbrücken, aber wuschschsch!, plötzlich war das Streichholz angezündet.«
    Da sie kein Streichholz zur Hand hatte, untermalte Mireille ihre Worte mit der Flamme ihres Feuerzeugs.
    »Das heißt nicht, dass ich mich auf Anhieb in eine Aktivistin verwandelte. An dieser ersten Versammlung faszinierten mich vor allem das Stimmengewirr, das Geschrei und die Hitze, die wir verströmten, wir Studenten, wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. In einer Sache waren wir uns alle einig: De Gaulle war ein Faschist, der sich an der Macht festgekrallt hatte, und um ihn endlich loszuwerden, musste man auf die Straße gehen. Aber über die Formen des Protests oder der Intervention klafften die Meinungen weit auseinander. Der Saal verwandelte sich in einen Hexenkessel, den vier oder fünf Studentensprecher noch halbwegs unter Kontrolle hielten. Eine Gruppe pfiff die Redebeiträge der anderen aus, und eine dritte klatschte Beifall, aber du wusstest nicht, ob das zustimmend oder sarkastisch gemeint war. Ein paar Jungs lachten systematisch über jede Äußerung, die gemacht wurde, und wenn sie selbst

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