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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jordi Punti
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geworden.
    Manchmal, wenn sie bei alten Freunden zu Besuch war oder zu viel Gras geraucht oder schlicht einen nostalgischen Tag hat, ruft sie mich abends an, um eine Weile zu plaudern – schon vor Jahren hat sie mich aus ihrer Wohnung geworfen, wie sie zu sagen pflegt. Am Anfang erzählt sie mir zum Schein immer irgendeine Neuigkeit, aber dann ist sie schnell wieder bei der Frage, wo und wie wir jetzt wohl wären, wären wir nicht Weihnachten 1970 ins neunzehnte Arrondissement gezogen, in eine eher kleinbürgerliche Gegend. Vor allem, wie ich wohl wäre, wenn wir noch länger in der Kommune gelebt hätten. Ihre Stimme klingt dabei honigsüß, wohlwollend resigniert, ohne jeden Groll, aber ich bin überzeugt, dass sie mir da im Grunde ihres Herzens etwas übel nimmt. Als wäre ich allein es, der die Chance verpasst hat, ein besserer Mensch zu werden, und als trüge ich zugleich die Schuld daran, wie es mit dem Vater gelaufen ist und so weiter. Ich höre ihr geduldig zu, und am Ende sage ich immer das Gleiche: Mich darfst du nicht fragen, Mama, ich war da noch nicht mal zwei Jahre alt.
    Ich weiß, ich langweile sie tödlich, und ich unternehme nichts dagegen.
    Wie gesagt, Christofs, es gelingt mir nicht, zusammenzuklauben, was für Umwälzungen mein verwirrter Babyschädel damals abspeichert hat. Wenn wir nun diese Monate von Wein und Rosen rekonstruieren wollen, verlasse ich mich also ganz auf die Erinnerung der Protagonisten und gehe in der Zeit zunächst noch ein Stück weiter zurück. Ich habe die Ehre, vom ruhmreichen Einzug des Pegaso von La Ibérica in Paris zu erzählen. Fürs Erste lassen wir also Mireille reglos in ihrer WG im Quartier Latin zurück. Es ist früher Morgen. Zigarette in der Hand, der Blick geht ins Leere, die Gedanken verlieren sich zwischen dem Wunsch nach Aufruhr und einem schläfrigen Gähnen, das Lächeln gilt dem möglichen Sieg. Um sie herum rekapitulieren die streikenden Studenten die Razzien der letzten Tage, den Ärger mit der Polizei, das Treffen am Montag mit ein paar Genossen aus der Arbeiterschaft. Ich schlage in den Geschichtsbüchern nach – denn das ist ja Geschichte – und lese, die Demonstranten forderten, dass alle Polizisten vom Campus verschwinden, alle inhaftierten Studenten freigelassen und die Nanterre und die Sorbonne wieder geöffnet werden sollten, aber die Regierung hörte nicht auf sie. Mireille und ihre Genossen beratschlagten über die Strategie für die nächsten Auseinandersetzungen.
    Das war am 10. Mai 1968, kurz bevor der erste Sonnenstrahl die Spitze des Eiffelturms erleuchtete.
    Zur selben Zeit, über achthundert Kilometer entfernt, hatte der Lastwagen von La Ibérica gerade die Zollstation von La Jonquera passiert und rollte über französische Schnellstraßen. Bundó, Gabriel und Petroli hatten die Fuhre am Abend zuvor eingeladen, aus einer Wohnung ganz oben im Carrer Balmes. Sie waren dann früh schlafen gegangen und um vier Uhr morgens bei La Ibérica losgefahren. Es handelte sich um den Umzug eines jungen Gerbereiunternehmers, der ein Geschäft in Paris eröffnete. Da dieser Jüngling mit einer Französin die Ehe eingegangen war, hatte sein Vater seinem Drängen nachgegeben und ihm ein Luxus-Schuhgeschäft in der Rue de Saint-Honoré spendiert.
    Wie immer fuhr beim Grenzübertritt Gabriel. Bundó war auf der Höhe von Figueres eingeschlafen, den Kopf gegen die Tür gelehnt. Der Lkw schaukelte ihn in den Schlummer, aber später würde er wie immer mit Kopfschmerzen erwachen und sich beschweren, dass die beiden anderen ihn nicht gewarnt hätten. Petroli, der in der Mitte saß, vergewisserte sich noch einmal, dass sie die Schlüssel dabeihatten, und blätterte in den Umzugsunterlagen. Er wollte wissen, in welches Arrondissement es ging. Die Sieben-Uhr-Nachrichten von Radio España meldeten die Unruhen in Paris: »Die Stadt des Lichts ist auf dem besten Weg, sich in ein Kriegsgebiet zu verwandeln. Sie wird belagert und ist stockdunkel, denn die Studenten und die Arbeiter haben sich aufwiegeln lassen. Die Behörden kämpfen darum, die soziale Ordnung wiederherzustellen.« Er fand die Adresse: Rue de l’Estrapade. Später würde er sie auf dem Stadtplan suchen, es blieben ja noch viele Stunden Fahrt. Schweigend und Radio hörend fuhren sie hundert Kilometer weiter.
    Jede Reise braucht ihre Aufwärmphase, pflegte Gabriel zu sagen. In den ersten Stunden, die, weil alles noch frisch war, schnell vergingen, verschwendeten die drei Freunde keinen Speichel. Da

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