Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Appartements für Studenten, in dem der Geist einer intellektuellen Kommune wehte. Mich mitgezählt, waren wir in der Wohnung vier Frauen und drei Männer. Heute gar nicht mehr vorstellbar, eine WG in der Gegend, viel zu teuer. Am Samstag half sie mir mit dem Umzug, mit den paar Sachen, die ich hatte. Abends rief ich meine Eltern an und tischte ihnen eine ausgefeilte Lüge auf. Die Pensionswirtin sei verhaftet worden, die Polizei habe herausgefunden, dass sie Studentinnen kidnappte und zur Prostitution zwang. Für die Dauer der Ermittlungen sei die Pension geschlossen worden. Mein Vater hörte mir wohl mit entgeisterter Miene zu, und im Hintergrund plärrte meine Mutter: ›Was ist passiert? Was ist passiert?‹ Sie bräuchten sich keine Sorgen zu machen, sagte ich. Dass ich anrief, hieß ja, dass es mir gut ging und dass ich auch schon in einer anderen Pension untergekommen sei, in einer anständig geführten, zudem noch näher an der Universität. Deine Großeltern, Christophe, starben Jahre später in der Überzeugung, dass ich immer wie eine Heilige gelebt hätte. Ich weiß nicht, ob das unredlich von mir war, offen gestanden denke ich darüber lieber nicht nach. Fest steht, dass die Bekanntschaft mit Justine meinen Horizont ziemlich erweiterte. Was die Beziehungen zwischen uns sieben WG-Bewohnern angeht, erspare ich dir ein paar intime Details, die ein Sohn nicht zu kennen braucht« – sie lächelte verschwörerisch, was mir, wie sie wusste, unangenehm war –, »aber ich muss sagen, ich habe wohl nie wieder so intensiv gelebt wie zu jener Zeit. Was nicht heißt, dass ich mich danach zurücksehne. Die Wohnung war damals vor allem ein Treffpunkt. Pausenlos gingen die Leute ein und aus, Freunde, alles aufmüpfige Studenten, die, wie wir damals sagten, die Dialektik suchten. Da vergingen die Stunden wie im Flug. Die Heizung funktionierte nur ab und zu mal, meistens bibberten wir vor Kälte. Wir drängten uns alle in einem Zimmer, auf dem Fußboden, in Decken gewickelt, rund um einen Elektroofen, den einer seinen Eltern geklaut hatte. Wir legten zusammen, um Wein und Zigaretten, Brot und Käse zu kaufen, und redeten uns bis zum Morgengrauen die Köpfe heiß. Nicht immer ging es um Politik, unser Lieblingsthema war der Klassenkampf. ›Endlich Gerechtigkeit schaffen, verdammt! Den Genossen Arbeitern die Augen öffnen!‹ So schrien wir angetrunken herum. Und manchmal, wenn wir richtig in Rage waren, gingen wir um Mitternacht noch raus und pinselten in den reichen Stadtvierteln Parolen an die Mauern. Was haben wir gelacht! Manche von unseren Gästen in der WG sind später berühmt geworden, zum Beispiel Jacques Sauvageot, der Anführer der Studentengewerkschaft, oder ein Typ, der Schriftsteller sein wollte und Robert Merle hieß. Oder auch ein gewisser Riesel, der bei den Situationisten das Sagen hatte, keine Ahnung, was aus dem geworden ist. Diese Kommune war für mich die wahre Universität. Im Mai, drei Monate nach meinem Einzug, war ich bestens vorbereitet für die Revolution. Und dann, Christophe, erschient eines schönen Tages ihr, du und dein Vater. Also zuerst Gabriel und neun Monate später du. Das war die Reihenfolge, wenn ich mich nicht täusche.«
Da habt ihr also den großen Witz, Christofs: Ich bin ein Kind der Revolution. Wie gesagt, die Welt ist schlecht aufgeteilt. Ich bin in dieser verdammten Kommune im Quartier Latin zur Welt gekommen. Meine Mutter wollte eine natürliche Geburt, unterstützt von einer revolutionären Hebamme und einer Bande Langhaariger, die, während ich langsam den Kopf herausstreckte, von einem Erlebnis kosmischer Einheit schwärmten, das dieser Moment ihnen bescherte. Der erste Duft, der in der Außenwelt in meine Nase drang, war der von Marihuana. Sie wickelten mich in indische Paillettentücher, und ich tat mein Bestes, ihnen die mit Sabber und aufgestoßener Milch zu versauen. Um mich in den Schlaf zu wiegen, sangen sie mir Les Nouveaux Partisans oder Le Déserteur … »Depuis que je suis né, j’ai vu mourir mon père, j’ai vu partir mes frères …« Damit wollten sie mir nicht etwa meine Zukunft weissagen, oder? Es mag am Gesetz der Pendelwirkung liegen: Ich habe mit den Hippieanwandlungen meiner Mutter und ihrer Kreise nie viel am Hut gehabt. Zwar bin ich auch nicht ins andere Extrem ausgeschlagen, aber ich weiß unsere Gesellschaftsordnung zu schätzen und betrachte mich als praktischen Rationalisten. Wahrscheinlich bin ich deshalb Naturwissenschaftler
Weitere Kostenlose Bücher