Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Portier emsig überwacht, machten Mireille, Justine und ihre Freunde an einer Straßenecke halt und ließen eine Flasche Wein kreisen, um sich die Kehlen wieder weich zu spülen. Das war vielleicht nicht gerade ein medizinisches Gegenmittel, aber man musste auf seine Stimme achten. Seit Stunden schrien sie sich mit revolutionären Parolen heiser – manchmal sah es aus wie ein lustiger Wettstreit um den originellsten Spruch –, und es lagen noch viele weitere Stunden Kampf vor ihnen. Dieser Tag musste ein großer Tag werden. Tatsächlich war er es bereits. Am Morgen hatten sie geholfen, Transparente zu malen und sie im ganzen Viertel auszuhängen, und später, als sie sahen, dass die Polizei strategische Punkte besetzte, hatten sie begonnen, Pflastersteine herauszureißen. Jemand hatte ihnen versichert, darunter befinde sich der Strand. Nun waren sie an der Kreuzung von Boulevard Saint-Michel und Rue Soufflot angelangt, und der kompakte Lärm der Sprechchöre ringsum machte ihnen Gänsehaut. Justine, die bei einem der Jungen auf den Schultern saß, sagte, die Demo sei unendlich groß – wirklich so groß, dass es keine Zahl dafür gebe. Und langsam schob diese Menschenmasse sie mit sich vorwärts. Mal fassten sich alle an den Händen, über die ganze Straßenbreite, dann wieder ließen sie los und stolperten ein paar Meter ungeordnet weiter, wobei sie gemeinsam »Amnestie! Amnestie! Amnestie!« schrien. Die Sprecher an den Megafonen wiederholten, dass die friedliche Besetzung des Quartier Latin geglückt sei.
Zwei Stunden später, also um sieben Uhr abends, war Mireilles Gruppe abermals im Kern der Revolte angelangt, an der Place de la Sorbonne. Man erwartete Verlautbarungen der Studentenführer. Von der Regierung musste die sofortige Freilassung der inhaftierten jungen Leute gefordert werden. Zu dem Zeitpunkt hatten die drei Arbeiter von La Ibérica den Laderaum des Pegaso halb geleert. Alle Kartons – bis auf einen, den sie zufällig aussortiert hatten – waren oben in der Wohnung, ebenso alle zerbrechlichen Gegenstände und die leichteren Möbel. Was nun noch fehlte, waren die unhandlichen Stücke, die Bettgestelle, Schränke, Sessel, Haushaltsgeräte … Zunächst jedoch trugen sie zu dritt sehr vorsichtig einen Spiegel, der ins Esszimmer sollte. Ein Monstrum von Spiegel, zwei Meter hoch, mit Goldrahmen, schwer wie ein Esel. Sie wickelten die Decken ab, die ihn schützten, damit er ihnen nicht aus den Händen glitt, und luden ihn aus dem Laster. Sogleich reflektierte er den wolkigen Himmel dieses Maiabends, die verriegelten Fenster, die alten Häuser, die steinige Straße. Im selben Moment zerriss ein Getöse von Autos, Sirenen und schweren Stiefeln die Stille. Die drei Arbeiter hielten neugierig inne und lauschten. Gabriel erkannte im Spiegel eine Bewegung. Am unteren Ende der Straße trabte ein Polizeiregiment durch die Rue Tournefort in Richtung Universität. Die Reihen der Uniformierten nahmen kein Ende, und gepanzert mit ihren Helmen und Schilden sahen sie aus wie ein Heer von Samurai-Kriegern. »Vite, vite, vite!«, schrie der Portier verzweifelt aus dem Haus, und auf einmal fühlten sich die drei Freunde wie Kriminelle, die in flagranti geschnappt zu werden drohten. Der Spiegel erzitterte, die kriegerische Szene verschwand. Während sie die Last die Treppen hochtrugen – den Fahrstuhl brauchten sie diesmal nicht –, hörten sie in der Ferne mehrere Schüsse.
Die erste Tränengasbombe ging in etwa hundert Metern Abstand von Mireille, Justine und ihrer Gruppe nieder, auf dem Boulevard Saint-Michel. Sie traf ein Schild mit Ho-Chi-Minh-Porträt, das ein Junge in die Höhe hielt. Von der Ecke Rue Bonaparte/Saint-Sulpice her hatte es schon Gerüchte gegeben, dass die Polizei zum Angriff übergehe, aber mit solch einer Attacke hatte noch niemand gerechnet. Und schon schossen sie die nächste Bombe ab, aus der Rue des Écoles. Sie traf aus großer Höhe auf, mit qualmender Kreiswelle, und alle sprangen panisch auseinander. Es hieß, wenn man Pech hatte, konnte sie einem das Gesicht verbrennen. Ein paar Leute rannten los, mitten durch den Gasnebel. Sie hielten sich Tücher vors Gesicht und warfen Steine nach den Polizisten, auch wenn sie erraten mussten, wo die vaches überhaupt standen. In diesem Getümmel bekam Mireille zum ersten Mal Angst, richtig Angst. Sie hörte die hohlen Schreie der Gendarmen auf der anderen Straßenseite, und ihr zitterten die Beine. Um sich abzulenken, zwang sie sich, noch einmal
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