Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
französischen Straßennamen ließen sie ganz weg, damit hätten sie sich nur die Zungen verknotet. Gabriel betrachtete inzwischen die Stadt. Er war schon einige Male in Paris gewesen, immer mit dem Zufalls-Touristikunternehmen La Ibérica, und nirgendwo bekam er solche Lust, den Laster stehen zu lassen, die Fracht zu vergessen und spazieren zu gehen. Er verglich es mit Barcelona und hatte den Eindruck, die Windschutzscheibe sei sauberer. Ein anderes Leben war möglich. »Wenn ich eines Tages verschwinde, sucht mich in Paris«, pflegte er zu sagen. Was sich nicht als wahr erwiesen hat.
Je weiter sie ins Zentrum vordrangen, desto dünner wurde der Verkehr. Es war ein Freitag, doch er wirkte wie ein Sonntagnachmittag. Da sie noch die Nachrichten auf Französisch gehört und sich ihren Reim darauf gemacht hatten, erwarteten sie mehr oder weniger eine Stadt im Belagerungszustand. Doch ganz im Gegenteil, das Viertel Montparnasse lag still wie nach dem Zapfenstreich. Drei, vier verstreute Fußgänger, und die Caféterrassen, die normalerweise aus allen Nähten platzten, waren fast menschenleer. Sie fuhren eine breite Avenue hinauf nach Port-Royal und dann weiter über den Boulevard Saint-Michel, aber als die Jardins du Luxembourg in Sicht kamen, zwang ein Gendarm sie zum Abbiegen. Sie waren keine dreihundert Meter mehr von der Rue de l’Estrapade entfernt und sehr nah an der Rue Lhomond, aber um hinzugelangen, mussten sie endlos Runden drehen. Manche Gassen waren so eng, dass der Pegaso mittendrin stecken geblieben wäre. Die wenigen Passanten blickten sie an, als wären sie Außerirdische – und vielleicht waren sie es auch. Am Ende fanden sie einen Parkplatz an der Kreuzung mit genug Platz zum Ausladen.
Draußen las Petroli einen Spruch, der an die Hausmauer gemalt war. » Enragez-vous! Was zum Teufel mag das heißen?«
Und als wollte es eine Antwort geben, drang ihnen in diesem Moment ein fernes Getöse ans Ohr, der Lärm einer aufgebrachten Menschenmenge. Nervös erwartete der Portier sie vor dem Haus. Er empfing sie, indem er das Eingangstor weit aufschlug. Und obwohl sie schon unterrichtet waren, erklärte er ihnen noch einmal, dass die Eigentümer erst am Montag einträfen und dass sie dann alles korrekt auf die Zimmer verteilt vorzufinden hätten, gemäß einer Skizze, die er in den Händen hielt. Gabriel nickte. Er rechnete mit maximal fünf Stunden für das Ausladen, dann würden sie die Rückfahrt antreten. Am Samstagnachmittag wollten sie wieder in Barcelona sein. So weit die offizielle Version. In Wahrheit hatten die drei Freunde andere Pläne. Sie hatten vereinbart, dass sie, wenn es spät würde und sie müde wären, in der Wohnung blieben. Wer würde sich eine Übernachtung in Paris entgehen lassen? Sie würden auf den Matratzen schlafen (das musste ja niemand erfahren) und sich am nächsten Morgen auf den Weg nach Clermont-Ferrand machen. Petroli kannte über seine Emigrantenklubkontakte ein Ehepaar aus Extremadura, das fünfzehn Jahre zuvor dort gelandet war. Nun standen sie beide vor der Pensionierung, ihre beiden Söhne hatten Arbeit gefunden, und das Heimweh war geblieben, also waren sie nach Spanien zurückgekehrt. Sie hatten sich ein Häuschen in Sant Vicenç dels Horts bei Barcelona gekauft. Und da sie auch die Möbel mitnehmen wollten, die sie all die Jahre so pfleglich behandelt hatten, gleichsam als Nachweis ihrer Mühe, hatte Petroli ihnen angeboten, den Transport zum Selbstkostenpreis zu übernehmen – natürlich ohne dass man bei La Ibérica davon Wind bekäme.
Der Umzug in Paris ging zwar nur in den ersten Stock, dennoch waren die drei Freunde froh, dass das Gebäude einen Fahrstuhl hatte. Nach einer langen Reise freute sich der Körper über ein bisschen Beanspruchung, die Muskeln wollten wieder etwas zu tun haben, aber nachdem dieser erste Anreiz verflogen war, erwies sich der Aufzug als unverzichtbar. Als sie die Laderaumtüren öffneten, schlugen die Glocken der Kirche Saint Médard fünf Uhr nachmittags. Wenn sie vor Einbruch der Dunkelheit fertig sein wollten, mussten sie sich beeilen. Der letzte Glockenschlag ließ sie die Stille ringsum noch deutlicher spüren. Aus einer Bar auf der anderen Straßenseite drang das Klackern von Billardkugeln. Ohne dass einer etwas sagte, stellten sich alle drei diese Spieler als Verbündete vor – Menschen, denen die Welt gerade ebenso gleichgültig war wie ihnen.
Während Gabriel, Bundó und Petroli Schnüre lösten und Decken wegzogen, vom
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