Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
den Schlachtplan durchzugehen. Die aus ihrer Zelle hatten entschieden, auf der Straße zu bleiben, egal was passieren würde. Falls sie im Kampf getrennt würden, würden sie sich um zehn Uhr abends vor einem Bistro in der Rue Danton wieder sammeln. Eine Rückkehr in die Wohnung war verboten. Die Polizei hatte in der Gegend Späher postiert, manche in Zivil, denen könnte man in die Fänge gehen. In den letzten Stunden waren die Verhaftungen immer willkürlicher geworden, die Schweine waren hier nicht zum Kinderfest angerückt.
Das Heulen einer weiteren Tränengasbombe ließ sie wieder auseinanderfliehen. Im Tumult verloren die beiden Mädchen ihre Freunde aus den Augen. Das Geschrei war ohrenbetäubend, Mireille verstand kein Wort von dem, was Justine zu ihr sagte. Sie fassten sich bei der Hand und rannten zusammen in Richtung Rue Cujas, doch plötzlich waren sie von einer Woge von Menschen umgeben, die ihnen entgegenkamen, und mussten sich loslassen. Justine, als Demonstrantin erfahrener, machte kehrt und ließ sich mit dem Strom tragen. Mireille mühte sich ab, mit einer kleinen Gruppe Schritt zu halten, die in die alte Richtung weiterwollte, und rettete sich dann mit ihnen in einen Hauseingang. Jemand schloss hinter ihnen die Tür. Sie durchquerten einen Innenhof und einen Flur voller Abfall. Fast wäre sie auf eine Ratte getreten, die sich hinter einer Mülltonne versteckte (und fand, vom Ekel geschüttelt, noch Zeit zu denken: »Genau wie ich«). Am Ende des stinkigen Tunnels öffnete eine Frau eine andere Tür und blickte vorsichtig hinaus. Freie Bahn. Draußen stellte Mireille fest, dass sie sich am Ende der Rue Touiller befanden. Sie atmete durch. Doch schon hörte sie von Neuem den Schreckenslärm der angreifenden Polizei. »Sie wollen uns einkesseln!«, brüllte jemand. Ohne zu wissen, woher sie die Kraft noch nahm, rannte sie über die Rue Soufflot – aus dem Augenwinkel sah sie zur Linken die Kuppel des Panthéon wie den runden Rücken eines sitzenden Riesen – und bog in die erste Gasse, die sich anbot. Sie kannte die Gegend und fühlte sich sicher im Labyrinth. Sie traf nun auf immer weniger andere flüchtende Studenten. Ihr kam der Gedanke, zurück zur Wohnung zu gehen, doch ihr Loyalitätsempfinden ließ sie diesen Plan sofort wieder verwerfen, und sie schlug die Gegenrichtung ein. Sie trat in eine Gasse, in der die Zeit stehen geblieben schien. Müde verlangsamte sie den Schritt. Da erschreckte sie ein junger Mann, der hinter ihr gelaufen kam und schrie, sie solle nicht einschlafen, les vaches seien ihnen auf den Fersen und schon fast an der Ecke. Sie begann wieder zu rennen. Die Rue Lhomond hinunter, so schnell sie konnte, und ehe sie dann abbog, blickte sie sich um. Niemals umschauen!, hatten die Freunde ihr eingeschärft, aber sie konnte es nicht vermeiden. Vom anderen Ende der Straße her schrie ein Gendarm sie an: »Stehen bleiben!«, mit erhobenem Knüppel. Sie hörte nicht auf ihn, sondern spurtete im Zickzack weiter und bog in die Rue d’Ulm ab. Hinter sich hörte sie die Schritte des Polizisten. Sie schlug einen Haken in die Rue de l’Estrapade hinein, strauchelnd, fast wäre sie gestürzt, das Herz schlug ihr bis zum Hals, das Hirn war ohne Sauerstoff. Verwirrt, als wäre sie plötzlich in eine andere Dimension geraten, erblickte sie den Lkw von La Ibérica mitten im Weg.
Gabriel und Petroli hatten gerade einen zweitürigen Kleiderschrank entladen. Eine halbe Minute zuvor waren zwei Studenten ihnen ausgewichen und die Straße hinuntergehetzt. Nun blieb Mireille unschlüssig stehen. Sie rang um Atem. Ihre erschrockenen Augen klammerten sich an Gabriels Augen fest. Sie wollte etwas sagen, konnte aber nicht sprechen. Wieder blickte sie sich um, hastig. Da verstand er, schlug die Schranktüren auf, mit theatralischer Geste, Molière-Komödie, und winkte ihr, sie solle hineinsteigen. Mireille versuchte sich an einem Heldinnenlächeln und rettete sich mit einem Sprung in das Versteck. Petroli schloss die Türen genau in dem Augenblick, als die Silhouette des Gendarmen an der Ecke erschien.
Mit diesem Kunststück, Christofs, trat Mireille in Gabriels Leben.
Als sie den Schrank gerade wieder heben wollten – sie durften ja keine Zeit verlieren –, blieb der Polizist vor ihnen stehen. Verschwitzt, mit wutverzerrtem Gesicht, den Knüppel in der Hand, fragte er sie, wohin das Mädchen gerannt sei. Die beiden Freunde zuckten mit den Schultern, taten so, als hätten sie ihn nicht verstanden,
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