Die italienischen Momente im Leben
darauf weiterlaufen lassen, gleich eine ganze Gruppe von Orchestermusikern zur selben Zeit zum Dirigentenpult, drei Männer rennen von den Personaleingängen in den Orchestergraben. Die kleine Helferschar hebt den stocksteifen Dirigenten hoch und trägt ihn hinaus. Glücklicherweise ist er nur ohnmächtig. Ein kurzzeitiger Blutdruckabfall, wie eine Mikrofonstimme aus dem Off uns beruhigt.
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Dieser Vorfall beschäftigt mich so sehr, dass ich nachts einen schrecklichen Albtraum habe:
Der Intendant kommt vor den Vorhang, um die Gemüter zu beruhigen, und versichert uns, dass sich viele Leute bemühen, dem eben bewusstlos gewordenen Tenor zu Hilfe zu eilen.
»Meine sehr geehrten Damen und Herren … bitte behalten Sie Platz und begeben sich nicht zu den Ausgängen. In Kürze werden Sie vom Personal des Theaters und Polizeibeamten hinausbegleitet. Bewahren Sie bitte Ruhe …«
Einer der Ärzte gibt den Umstehenden ein Zeichen, sich zu entfernen. Dann wendet er sich an einen Mann, vielleicht einen Polizeikommissar:
»Schauen Sie dort …«, und zeigt auf die rechte Seite des Unterleibs, und dann wandert seine Hand langsam zum Nabel und zur linken Hüfte des Tenors, »er wurde von diesen kleinen Pfeilen getroffen. Wahrscheinlich vergiftet.«
Auf dem Körper des Tenors stecken drei winzige Federn, die aussehen wie die Köderfliegen eines Anglers. Der Mann kann sich auch keinen Reim darauf machen:
»Mord durch vergiftete Pfeile? Das ist doch absurd! Schrecklich absurd!«
Am nächsten Tag steht in der Gazzetta di Parma zu lesen: »Absurdes Drama im Teatro Regio. Tod während Simon Boccanegra : Tenor bei der Premiere auf offener Bühne ermordet. Gestern Abend wurde der Star des Ensembles von einem geheimnisvollen Phantom der Oper getötet. Tumulte im Publikum. Die Polizei hat noch keine eindeutigen Hinweise auf den Täter, aber erste Verdachtsmomente.«
Nachdem der Mord am Morgen landesweit für Schlagzeilen gesorgt und sich auch das Fernsehen zur Genüge auf den Fall gestürzt hat, sehe ich mir eine Talkshow an, in der ein superschlauer Journalist meint:
»Wir kennen doch alle Mino den Fischer, diesen hemmungslosen Musikbesessenen, der jeden Abend in der Loge geduldig darauf lauert, seine ›Beute‹ beim kleinsten falschen Ton mit Pfiffen niederzumachen. Gestern Abend hat er es auf die Spitze getrieben und mit Unterstützung seines Freundes, eines Regisseurs aus Rom, der die Fernsehaufnahmen leiten sollte, drei seiner Anglerfliegen in ein Blasrohr getan und damit sein wehrloses Opfer niedergestreckt!«
Darauf ein zweiter: »Jeder hier weiß doch, wie leidenschaftlich Mino bei gut gesungenen Arien wie auch bei nicht getroffenen Tönen reagiert. Für mich steht zweifelsfrei fest – Mino ist der Mörder und dieser seltsame Regisseur sein Komplize!«
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Die Lichter verlöschen wieder. Der Dirigent kehrt ans Pult zurück, die Stimme aus dem Off kündigt den Beginn der Aufführung an:
»Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir können Sie beruhigen … dem Maestro geht es gut, das vorhin war nur ein kleiner Schwächeanfall aufgrund eines vorübergehenden Blutdruckabfalls. Wir entschuldigen uns für die kurze Verzögerung. Bleiben Sie bitte sitzen. In Kürze beginnt der erste Teil von Simon Boccanegra , Oper in drei Akten von Giuseppe Verdi. Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen.«
»Achtung für Kamera eins … Let’s go , Michela!«
14.
L’AQUILA
1974–2009
Ich kniete auf einem Stuhl, den ich mit der Lehne an einen alten Holzschreibtisch mit mehreren Schubladen geschoben hatte, stützte das Kinn auf die grüne Resopalplatte und beobachtete neugierig und selig, was mein Vater so trieb. Der scharfe Geruch der mit dem Lösungsmittel verdünnten Tinte biss mich in der Nase, aber das kümmerte mich nicht, ja, ich merkte es kaum, denn wenn ich ihn mit dem alten Hektografen hantieren sah, war das für mich interessanter als ein Zeichentrickfilm mit Tweety und dem Kater Sylvester in unserem Schwarz-Weiß-Fernseher. Wie ein Hündchen lief ich meinem Vater durch das große Zimmer hinterher, und als er zur Olivetti-Schreibmaschine ging, fragte ich mich, warum er diesmal nicht wie üblich weißes Papier mit eingelegtem Kohlepapier einspannte, sondern diese viel dünneren komischen Blätter mit einer Wachsschicht. Mein Vater hämmerte auf die Tasten ein, und in regelmäßigen Abständen ertönte das helle Klingelzeichen, das das Ende einer Zeile ankündigte. Darauf betätigte mein Vater den Hebel und schob mit
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