Die italienischen Momente im Leben
diesem typisch ratschenden, mir so vertrauten Geräusch die Walze der Olivetti an den neuen Zeilenanfang.
Mein Vater war ein brillanter Strafverteidiger, obwohl er sich auch mit Zivilrecht beschäftigte. Er hatte eine Zulassung am Kassationsgericht als Rechtsbeistand für Berufungsklagen, dienicht jeder Anwalt besaß. So war er zwar zum Großteil in Avezzano tätig, jenem kleinen Städtchen in den Abruzzen, in dem ich geboren wurde, aber oft auch beruflich in ganz Italien unterwegs.
Weil er mich gerne mitnahm, kam auch ich häufiger nach L’Aquila, die Hauptstadt unserer Region. Ich setzte mich dann hinten in den Gerichtssaal und verfolgte seine Plädoyers. Das mochte ich sehr, ich lauschte gern seiner Stimme und bemühte mich, die Feinheiten seines Redestils herauszuhören.
L’Aquila ist eine mittelalterliche Stadt, in der die Zahl 99 von jeher eine große Rolle spielt: es gibt 99 Kirchen, Plätze und Brunnen, in einem von ihnen sprudelt aus 6 Röhren und 93 steinernen Masken Wasser, und die Uhr am Rathausturm schlägt 99-mal. Diese Vielzahl an Baudenkmälern lässt sich mit der Entstehungsgeschichte der Stadt erklären. Der Überlieferung nach soll Stauferkaiser Friedrich II. 99 Burgen und Dörfer zu einer Stadt zusammengeführt haben, wobei jede Burg einen Platz zugewiesen bekam, an dem sie ihr eigenes Viertel aufbauen konnte. So entstanden viele kleine Stadtteile, die noch heute nach den ursprünglichen Burgen benannt, nun aber unter einem Namen vereint sind: L’Aquila – Der Adler.
Der Name leitet sich zum einen vom ursprünglich an der Stelle befindlichen Ort her (Accula), und außerdem ist das Wappentier des Herrscherhauses Hohenstaufen ein Adler. Daraus wurde zunächst Aquila degli Abruzzi, und durch ein Ministerialdekret aus dem Jahr 1939 trägt die Stadt ihren heutigen Namen L’Aquila.
Wenn wir in die Regionalhauptstadt fuhren, standen drei Etappen schon von vornherein fest: die Basilika, die Eisdiele am Corso Emmanuele und das Gericht. Die Basilica di Collemaggio lag immer auf unserem Weg, und so konnten wir gar nicht anders, als ihre majestätische Pracht zu bewundern, wenn wir im Auto daran vorbeifuhren. Der Zwischenstopp an der Eisdiele ... na ja, der war ein Muss – hatte ich nicht bereits die Vorliebemeines Vaters für Eis erwähnt? Und das Gericht, in dem wir auch ganze Vormittage verbrachten, war schließlich das Ziel unserer Reise.
Manche Gerichtsgebäude erfüllen einen von vornherein mit Ehrfurcht wie zum Beispiel jenes, das in einem Kloster angesiedelt war, mit Holzbänken auf den Gängen und den in unzähligen kleinen Zellen untergebrachten Amtsstuben. Das hat mich schon ziemlich beeindruckt. Im Gericht von L’Aquila dagegen war alles modern, und hier flößte mir nichts Respekt ein. Kalt und kennzeichnend für die damalige Architektur. Nun war es Zeit für die Anhörung. Im Richterzimmer waren schon der gegnerische Anwalt und ein Ehepaar versammelt, es ging um einen typischen Scheidungsfall. Der Mann, den mein Vater vertrat, beschuldigte seine Frau der Untreue, sie habe eine Affäre mit einem Tierarzt aus einer anderen Stadt. Mein Vater legte Anruflisten vor, aus denen hervorging, dass die beiden auch spätnachts miteinander telefonierten, außerdem zeigte er Autobahnquittungen für die Strecke zwischen dem Wohnort der Signora und des Tierarztes. Also zahlreiche ziemlich schwerwiegende Beweise. Der Richter sah sich die Dokumente aufmerksam an, doch der gegnerische Anwalt wirkte nicht im Mindesten besorgt. Nein, er erklärte dem Richter doch in aller Seelenruhe, seine Mandantin sei eine Tierfreundin, kümmere sich liebevoll um ihre Hunde und Katzen und dazu sei sie auf die wertvolle Unterstützung des Tierarztes angewiesen, den sie deshalb sowohl persönlich als auch telefonisch zu jeder Tages- und Nachtzeit zu konsultieren pflege. Und das sehr häufig, da einer der Hunde alt und an Alzheimer erkrankt sei. Der Richter hörte ihm höflich zu, während mein Vater angesichts dieser völlig haltlosen Verteidigung schon die Vorfreude auf seinen Sieg auskostete.
Wer gelegentlich mit Anwälten zu tun hat, weiß, dass die Leute sich aus den merkwürdigsten Gründen an einen Rechtsbeistand wenden. Und sehr oft entwickeln sich aus diesen bizarren Auseinandersetzungen richtige Gerichtsfälle. Davon erzählte mir mein Vater gern während unserer langen Autofahrten.
Zum Beispiel: In den Siebzigerjahren verklagte jemand einen lokalen Fernsehsender, weil dieser seiner Meinung nach für die
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