Die Jaeger der Nacht
Brief erhalten habe. Und dass ich jetzt mein Bestes tue, um sie zu retten.
Ich will ihr meine Gedanken schicken, über das Land hinweg, das zwischen uns liegt, durch den Zement, das Metall und die Falltüren direkt in ihren Kopf hinein.
Sei schnell.
Ich weiß nicht, will ich ihr sagen. Ich weiß nicht, ob die Zeit reicht. Ich weiß nicht, ob ich die Hepra überhaupt finde und ob ich sie überzeugen kann, mit mir zu kommen. Ich weiß nicht, ob sie mich nicht durchschauen und erkennen werden, dass ich nur mit ihnen spiele. Dass ich sie als Köder benutzen und hierher zurück in die Höhle des Löwen führen will, wo sie so greifbar sein werden, dass niemand – weder die Jäger noch die Gäste noch die Institutsmitarbeiter, die Stallknechte, Wächter, Begleiter, Küchenhilfen, Schneider, noch die Reporter und Kameramänner – ihnen widerstehen kann. Ganz bestimmt nicht, wenn erst das Blut der Hepra fließt und auf den Boden tropft, sein Geruch aufsteigt und sich in der Luft verbreitet. Und in diesem Moment, wenn sich nicht nur Dutzende, sondern Hunderte dem Festmahl unerlaubt anschließen, werde ich …
Aber selbst dann, Ashley June, weiß ich nicht, ob die Zeit reicht, ins Gebäude zu schleichen und dich zu retten.
Sei schnell.
»Hü!«, rufe ich und zerre heftiger an den Zügeln, als es das Pferd verdient hat. »Hü!« Und das Pferd wird schneller – der Boden unter uns fliegt dahin. Die plötzliche Beschleunigung macht mich ganz ausgelassen und selbstvergessen; der brausende Fahrtwind raubt mir den Atem. Und während das Institut in der Ferne zu einem kleinen Punkt schrumpft und wir tiefer in das unerkundete Weite vorstoßen, werde ich von dem Moment überwältigt. Vielleicht ist es der Wind in meinem Haar, die Sonne auf meinem Gesicht, die langsam näher rückenden Berge im Osten, der schwarz glänzende Körper des Pferdes mit seiner flatternden Mähne. Aber es ist mehr als die Schönheit des Augenblicks. Es ist der Widerspruch, der mich fertigmacht: die Gnade solch unerwarteter Schönheit in diesem Augenblick unaussprechlichen Grauens. Es reißt mich in Stücke, und ich weiß nicht, wie ich es aushalten soll.
»Ha!«, rufe ich aus vollem Hals. Der von den Hufen des Pferdes aufgewirbelte Staub macht meine Stimme brüchig und heiser. »Ha!«
Bring die Hepra zurück.
Ich komme, Ashley June. Ich komme.
DIE HEPRA-JAGD
Über uns spannt sich ein hoher saphirblauer Himmel, während wir tiefer in das Weite vordringen. Vereinzelte Wolken sind über den Himmel getupft wie unberührte Flecken auf einer blauen Leinwand. Als der sandige Boden in eine flache harte Kruste übergeht, wird das Pferd schneller und galoppiert mit unnachgiebiger Wildheit voran. So schnell, dass es mich bei größeren Bodenwellen von meinem Sitz hebt und ich ein paar berauschende Sekunden lang fliege.
Ich lasse meinen Blick immer wieder über den Horizont schweifen, doch bis auf vereinzelte Josua-Palmlilien gibt es kaum eine Abwechslung in dem kargen Ödland aus rauen Gräsern und noch rauerer Landschaft. Kein Wild, nicht einmal eine einzige Hyäne oder ein wilder Hund. Nur Geier, die am Himmel kreisen, beunruhigenderweise direkt über mir.
Und auch nach einer halben Stunde im Galopp kein Hepra in Sicht.
»Brrrr, Junge, brrrr«, rufe ich und ziehe kräftig an den Zügeln. Das Pferd wird langsamer und trottet aus. Schweiß glänzt auf seinem schwarzen Körper und strömt über seine Brust und seine Flanken. »Wir gönnen dir eine kleine Pause, okay, Pferdchen?«
Ich löse die Bänder, die das Notizbuch zusammenhalten, und schlage es bei der leeren Seite auf. Im Licht der Sonne fließen die Farben förmlich vom Papier. Mittlerweile ist ein heftiger Wind aufgekommen, sodass ich die Seiten mit beiden Händen festhalten muss, damit sie nicht flattern. Mit einem Haufen großer Felsen zu meiner Rechten als Anhaltspunkt finde ich auf der Karte meinen Standort. Wieder bin ich beeindruckt von ihrer Detailgenauigkeit. Nicht nur das verwaschene Grau der Felsen ist exakt abgebildet, sondern auch ihre Anzahl: vier.
Wo sind die Hepra? So weit können sie nicht gelaufen sein. Selbst wenn sie gerannt wären, hätte ich sie mittlerweile einholen müssen.
Ich hole die Hepra-Kleidung aus der Kutsche und halte sie dem Pferd unter die Nase, doch es will nichts davon wissen. Speichelfäden spannen sich zwischen seinen Lippen, als es heiße Luft ausstößt. Nicht in der Stimmung zu schnuppern, vielen Dank.
»Ist in Ordnung, Junge, du hast dich wacker
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