Die Jaeger der Nacht
Wenn wir vor – ich weiß nicht – sechs Stunden oder so eine Kutsche gehabt hätten, wäre das verdammt hilfreich gewesen«, sagt Epap beißend.
»Ich hab ja nachgesehen«, sagt Sissy. »Während du all deine kostbaren Zeichnungen zusammengekramt hast. Der Stall war abgeschlossen. Wie immer.«
»Tja, er hat ein Pferd und eine Kutsche gefunden.«
Sie starren mich jetzt alle an, Epap und Sissy voller Argwohn. Jeder von ihnen trägt einen schweren Rucksack mit Messern und Speeren an der Seite, Wasserflaschen baumeln über ihre Schultern. Und Aktenkoffer, insgesamt fünf. Ihr Haar, ihr Gesicht und ihre Kleider sind mit Sand und Staub bedeckt.
»Ihr müsst mit mir kommen«, sage ich. Meine Stimme ist schrill von der Lüge in meinem Herzen.
Sie starren mich wortlos an.
»Sofort«, dränge ich. »Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Epap tritt vor. »Wohin?«, fragt er widerborstig.
»Zurück. Zurück zur Kuppel.«
Epap klappt den Mund auf und verzieht dann die Lippen zu einem höhnischen Grinsen. »Wir haben heute Morgen über den Umbilicus einen Brief bekommen«, sagt er und greift in seine Tasche. »Darin steht, dass die Kuppel eine technische Störung hat. Die Lichtsensoren sind beschädigt. Die Kuppel schließt sich bei Dunkelheit nicht.«
»Deshalb hat man euch von einem Schutzraum erzählt, eine Karte gegeben und gesagt, ihr sollt euch beeilen. Der Schutzraum sei etwa sechs Stunden entfernt.« Ich mache eine Pause. »Und wenn ich euch sage, dass das alles gelogen ist? Die Kuppel ist nicht defekt. Es gibt keinen Schutzraum.« Es fällt mir leicht, überzeugend zu klingen – alles, was ich bisher gesagt habe, ist wahr. Und das spüren sie auch. Panik flackert in ihren Augen auf und strafft ihre Schultern. Der kleine Ben blickt besorgt in die Ferne. Sie wissen es alle.
Sissy, die bisher geschwiegen hat, fragt: »Warum tun sie das?«
»Steigt in die Kutsche. Ich erkläre es euch auf dem Rückweg. Aber wir müssen uns beeilen.«
»Ich steige nicht in diese Kutsche, die ebenso gut zum Sarg werden könnte, bis du uns erzählt hast, was los ist«, faucht Epap mich an.
Also erzähle ich ihnen alles über die Hepra-Jagd. Warum man ihnen die Waffen gegeben hat. Warum es in den letzten Tagen im Institut so geschäftig zugegangen ist.
»Blödsinn«, sagt Epap. »Glaubt ihr etwa den Quatsch, den der Typ verzapft?«
Sissy starrt mich eindringlich an. »Weiter«, sagt sie.
»Wir müssen zurück zur Kuppel. Sie ist nicht defekt.« Und hier beginnt die Lüge. »Dort seid ihr sicher. Wir werden bis zum Sonnenuntergang dort sein, die Wände werden hochgefahren. Stellt euch deren verblüffte Gesichter vor, wenn sie auf Hepra-Jagd gehen wollen, und ihr sitzt alle friedlich da und röstet Marshmallows, sicher geborgen in der Kuppel.«
Epap dreht sich zu den anderen um und sieht Sissy an. »Wir dürfen ihm nicht glauben. Wenn er lügt und wir zurückkehren, sind wir tot. Die Sonne geht unter, die Kuppel fährt nicht hoch und wir sind erledigt.«
»Aber wenn ich die Wahrheit sage und ihr kehrt nicht zurück, seid ihr hier draußen tot.«
»Wir können ihm nicht vertrauen!«
»Was glaubst du, wie deine Eltern gestorben sind?«, fahre ich ihn an. »Das war keine Expedition zur Obstsuche. Es war die Hepra-Jagd, sie wurden losgeschickt, um gejagt zu werden! Genau wie ihr jetzt! Begreift ihr denn nicht? Ist es nicht offensichtlich? Genau das Gleiche passiert wieder. Ein Brief schickt euch hinaus in das Weite, hinaus aus der Sicherheit der Kuppel. Wie könnt ihr so leichtgläubig sein?«
Sissys Miene ist ein Spiegel ihrer Zerrissenheit.
»Sissy, hör nicht auf ihn!«, ruft Epap. »Er hätte uns auch schon gestern von dieser angeblichen Hepra-Jagd erzählen können, aber das hat er nicht getan, oder? Warum sollen wir irgendwas von dem glauben, was er uns erzählt? Ich wette, er ist nicht mal der Ersatz für den Forscher!«
Bei der Erwähnung des Forschers kommt mir eine Idee. »Wartet.« Ich laufe zur Kutsche und hole das Notizbuch. »In diesem Buch hat der Forscher seine Aufzeichnungen gemacht. Sie handeln vor allem von der Hepra-Jagd. Seht selbst und sagt mir dann, ob ich lüge.« Ich gebe Sissy das Notizbuch. Sie wirft mir einen argwöhnischen Blick zu und wendet das Buch in ihren Händen, bevor sie schließlich die erste Seite aufschlägt. Die anderen scharen sich um sie.
Sie lesen still und von Minute zu Minute angespannter. Sissys Gesichtsausdruck wechselt von Entsetzen über Ungläubigkeit zu Wut.
»Glaubt ihr
Weitere Kostenlose Bücher