Die Jaeger der Nacht
Ärmel aufzuheben. In der Dunkelheit stießen wir mit den Armen gegeneinander und eine unvergessliche Sekunde lang berührten sich unsere Hände. Ihre Finger streiften meine offene Handfläche. Wir zuckten beide zurück – ich überrascht, Ashley June angeekelt. Sie war still, vielleicht sammelte sie sich. Ich wollte die Tür des Kleiderschranks gerade aufstoßen, als sie sprach.
»Warte.«
Ich zögerte. »Was ist?«
»Können wir einfach … ein bisschen hier stehen bleiben?«
»Okay.«
Eine Minute verstrich. Ich konnte im Dunkeln nicht sehen, was sie machte.
»Bist du …«, begann sie.
Ich wartete, dass sie weitersprach. Aber sie sagte lange nichts.
»Glaubst du, es regnet immer noch so doll?«, fragte sie schließlich.
»Ich weiß nicht. Kann sein.«
»Laut Wetterbericht soll es die ganze Nacht regnen.«
»Wirklich?«
Wieder schwieg sie eine Weile, bevor sie weitersprach. »Du läufst doch immer zur Schule, oder?«
Ich zögerte. »Ja.«
»Hast du heute einen Schirm dabei?«
»Ja.«
»Ich bin heute Abend auch zur Schule gelaufen«, sagte sie, und wir wussten beide, dass sie log. »Aber ich habe meinen Schirm vergessen.«
Ich sagte nichts.
»Hättest du was dagegen, mich nach Hause zu bringen?«, flüsterte sie. »Ich hasse es, nass zu werden.«
Ich erklärte ihr, dass ich nichts dagegen hätte.
»Dann treffen wir uns nach der Schule am Tor, okay?«, sagte sie.
»Okay.«
Danach stieß sie die Schranktür auf. Wir sahen uns nicht an, als wir zu den anderen zurückkehrten. Die Jungs blickten mich erwartungsvoll an, und ich lieferte ihnen, was sie hören wollten. Ich sagte tonlos »Wow« und bleckte meine Reißzähne. Sie kratzten sich die Handgelenke.
Später in jener Nacht, als die Schüler nach dem letzten Klingeln hinausströmten, blieb ich an meinem Pult sitzen. Dort hockte ich, selbst als der Lärm in den Fluren längst verebbt war, die letzten Schüler und Lehrer die Schule verlassen hatten und das Getrappel der Pferdehufe in der Ferne verklang. Draußen prasselte der Regen gegen die Fenster. Erst als eine Stunde später die Sirene zum Morgengrauen ertönte, stand ich auf und ging. Vor dem Tor war es menschenleer, wie ich erwartet hatte. Inzwischen war es draußen eiskalt. Es regnete immer noch in Strömen, wie um die verlassenen Straßen zu füllen. Ich spannte meinen Schirm nicht auf. Ich ließ meine Kleider bis auf die Haut durchweichen und spürte, wie die feuchte Kälte über meine Brust kroch, in meine Haut biss und mein Herz einfror.
DAS HEPRA-INSTITUT
Die Fahrt dauert lange. Selbst in einer Stretchkutsche wird es nach den ersten paar Stunden unbequem – sie ist nicht für lange Strecken gemacht. Weite Reisen sind ohnehin sehr selten: Das Erscheinen der tödlichen Sonne alle zwölf Stunden schränkt die Möglichkeiten ein. Ohne die Sonne wären die zurückgelegten Strecken länger und die Eisenbahntechnik hätte die Pferde schon lange ersetzt. Aber in einer Welt, in der »der Tod täglich sein Auge auf uns wirft«, wie die Redensart lautet, lässt sich die Nachfrage nach Kurzstreckenreisen mit Pferden mehr als ausreichend decken.
Niemand sagt etwas, während wir durch die letzten Ausläufer der Stadt fahren und die Straßen immer holpriger werden, bis sie ganz in Wüstensand übergehen. Nach fünf Stunden halten wir schließlich vor einem düsteren Regierungsgebäude.
Als ich aussteige, sind meine Beine steif und wackelig. Ein Wüstenwind fegt über die dunkle Ebene und streicht kühl und erfrischend durch mein Haar.
»Gehen wir.« Wir werden zu dem grauen Gebäude geführt, die Stiefel der Offiziellen wirbeln kleine Staubwolken auf. Weitere Kutschen parken abseits, die Pferde sind angebunden, aber noch erhitzt von der Reise. Ihre Nüstern sind vor Erschöpfung feucht und gebläht, ihre Leiber dampfen. Außer der Kutsche, in der ich mit Ashley June gefahren bin, zähle ich fünf weitere: Wir sind also insgesamt sieben Lotteriegewinner.
Nichts an der kargen grauen Fassade des Gebäudes lässt auf die Pracht im Innern schließen. Marmorböden glänzen im gebrochenen Elfenbeinton der Alten Welt. Säulen mit verschnörkelten Basen und Kapitellen strecken sich zu unfassbar hohen Decken, die mit einer Stuckleiste mit Blattmuster abgesetzt sind. Flure und Treppen kreuzen sich in einem verwirrenden Labyrinth. Wir gehen nacheinander, ein paar Offizielle voran, eine lange Reihe von ihnen hinter uns. Unsere Stiefel klacken auf dem Marmorboden, Quecksilberlampen säumen den
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