Die Jaeger der Nacht
tausendmal verlegener als gestern, als ich vor Sissy meine Unterhose ausgezogen habe. Schon die Erinnerung daran lässt mich zusammenzucken.
Ich wate in den Teich und schrubbe mich ab. Wenn man dieses Seifending an seinem Körper reibt, erzeugt es kleine Schaumbläschen. Es ist selbst geruchlos, stoppt jedoch den Körpergeruch, haben sie mir erzählt. Perfekt für meine Bedürfnisse. Hin und wieder werfe ich einen verstohlenen Blick zu den Lehmhütten, aber die Hepra sind alle drinnen. Türen und Fenster bleiben wie versprochen geschlossen. Ich spitze die Ohren, um spöttisches Gelächter zu hören, doch es ist still.
Als ich mir unter Wasser die Haare wasche, höre ich etwas Seltsames. Zunächst denke ich, dass meine Ohren mir einen Streich spielen, doch als ich auftauche, sind die Klänge noch deutlicher. Ein Chor trällernder Stimmen dringt aus einer der Lehmhütten.
Es klingt unheimlich, aber wunderschön. Ich stehe fasziniert da, während Wasser aus meinen Haaren in den Teich tropft und sich winzige Wellen in größer werdenden Kreisen um mich herum ausbreiten. Ich wate ans Ufer, trockne mich ab und schnappe mir meine Kleidung.
Anfangs bemerken sie mich gar nicht. Ich spähe durch die Tür, mein feuchtes Haar tropft auf meine hastig übergestreiften Kleider. Sie sitzen im Kreis, Ben und Jacob haben mir die Gesichter halb zugewandt und die Augen verzückt geschlossen. Das Trällern weckt Erinnerungen an meine Mutter. An Zeiten, in denen sie an meinem Schlafplatz saß und mein Haar streichelte, ihr Gesicht kaum auszumachen im trüben Dunkel des Hauses. Es ist ihre Stimme, an die ich mich erinnere, besser als an ihr Gesicht, fröhlich und noch unbelastet von der Traurigkeit oder Verzweiflung, die später die Schultern meines Vaters niederdrückte.
Immer noch unbemerkt setze ich mich und lehne mich an die zerfurchte Mauer der Lehmhütte, sodass sie mich nicht sehen, ich sie aber hören kann. Im Licht der untergehenden Sonne lasse ich die Klänge über mich hinwegtreiben. Alles um mich herum fühlt sich weich und warm an, als ob die ganze Welt plötzlich aus Butter wäre.
Das Lied endet, und sie diskutieren, was sie als Nächstes singen wollen. Fünf Vorschläge werden gemacht – sie müssen Dutzende Weisen im Repertoire haben –, bevor sie sich auf ein Lied einigen, das »Hoch und frei« heißt. Es beginnt langsam, und zunächst hört man nur Sissy, die die Bögen und Spitzen der Melodie anstimmt.
Spürst du den Boden unter deinen Füßen
Der von des Tages Hitze klingt
Musst einsam sie in deinem Herz verschließen
Bis sich der Abend senkt, die Sonne sinkt.
Beim Refrain steigen die anderen mit perfektem Harmoniegesang ein, ihre Stimmen fließend und makellos – sie müssen dieses Lied schon Hunderte Male gesungen haben. Eingesperrt von Glas und Weite haben sie wahrscheinlich nichts anderes zu tun, um sich an den endlosen Tagen die Zeit zu vertreiben. Der Gesang gibt ihnen, was sie am meisten brauchen: eine Illusion der Hoffnung, die sie an andere Orte versetzt.
Hoch über tränenreiche Wolken sich erheben
Am blausten aller Himmel schweben
Frei wie ein wilder Falke leben.
Trotz ihrer bisweilen betörenden Schwermut ist die Melodie eingängig. Erst spreche ich die Worte stumm mit, dann spüre ich, wie beinahe unwillkürlich Laute über meine Lippen drängen. Aber es ist nicht leicht und ich bringe nur ein Krächzen hervor.
Plötzlich geschieht etwas: Es fühlt sich an, als ob sich ein riesiger Schleimklumpen in meiner Kehle löst. Eine Strophe lang treffe ich die Töne und für diesen kurzen Augenblick verliere ich mich vollkommen im Rhythmus des Liedes. Ich schwebe, ein Flugdrachen, der getragen von den süßesten Winden am Himmel flattert.
Das Lied geht zu Ende und von drinnen hört man Gelächter. Sekunden später stürmen sie heraus, allen voran Ben.
»Ich dachte, ich hätte gehört, wie sich draußen ein asthmatischer Hund zu Tode röchelt«, sagt Jacob mit Lachtränen in den Augen.
»Ein Hund oder was auch immer«, sagt David lächelnd. »Es klang mehr wie ein Elefant.«
»Mehr wie eine Herde Elefanten«, sagt Ben und hüpft ausgelassen von einem Fuß auf den anderen. Jetzt lachen alle, der Widerschein der Sonne in ihrem Haar lässt kleine Lichtpunkte in ihren Augen tanzen, die Härchen auf ihren Armen schimmern, Staub wirbelt von ihren Füßen auf, und ihre Stimmen hallen in der klaren Luft wider.
»Komm schon, du musst zugeben, das ist lustig«, sagt Sissy zu mir. Ihre Miene leuchtet in
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