Die Jaeger der Nacht
Sonnenlicht würde sie alle verbrennen. Die Entfernung ist der perfekte Schutzwall.«
»Du glaubst ihm doch nicht etwa, oder?«, fragt Epap fassungslos. »Wir wissen nichts über diesen Kerl. Taucht einfach aus heiterem Himmel hier auf und gibt den Alleswisser.«
»Epap«, sagt sie leise und legt eine Hand auf seine Schulter. Mehr muss sie nicht tun. Sein Ärger verfliegt augenblicklich. »Wir wissen eine Menge. Gene ist echt, das lässt sich nicht leugnen. Wir haben gesehen, wie er sich in der Sonne aufgehalten, unser Obst gegessen, geschlafen, sich einfach benommen hat wie wir. Du hast gesehen, wie er rot geworden ist. So etwas kann man nicht vortäuschen. Und außerdem wissen wir, dass er – egal, was du persönlich von ihm halten magst – ein Überlebender ist. Er hat gelernt, wie man mitten unter ihnen leben kann. Jahrelang. Er ist wertvoll für uns. Es ist gut, so jemanden dort draußen zu haben.«
»Aber woher wissen wir, dass er für uns ist? Er mag einer von uns sein, aber das heißt nicht automatisch, dass er für uns ist! Du hast Recht, er ist ein Überlebender. Aber es ist sein Überleben, worin er gut ist, nicht unseres.«
Anstatt ihm zu widersprechen, sieht Sissy mich an. Ihr Blick verrät Sorge und Argwohn. Sie weiß, dass ich etwas zurückhalte. Aber sie hat keine Ahnung, wie viel genau. Ansonsten hätte sie die folgenden Worte nie gesagt.
»Ich glaube, wir können ihm vertrauen. Ich glaube, er hat Güte in sich.«
»Ich glaub, ich muss kotzen«, sagt Epap.
»Epap!«, fährt sie ihn nun ungeduldig an. »Gene hat uns mehr Informationen geliefert, als wir in all den Jahren sammeln konnten. In zwei Minuten hat er uns Wissenswertes für zwei ganze Leben erzählt. Das sagt doch auch etwas.«
»Nutzlose Informationen«, sagt Epap verächtlich. »Selbst wenn das mit der Kolonie jenseits der Berge stimmt, ist es nutzlos. Wir können sie niemals erreichen, nicht mal in ihre Nähe kommen. Für uns sind die Berge einen zweiwöchigen Fußmarsch entfernt. Wir würden binnen Stunden aufgespürt und zur Strecke gebracht werden. Selbst wenn wir bereits im Morgengrauen bei Öffnung der Kuppel mit acht Stunden Vorsprung aufbrechen, würden sie sofort nach Sonnenuntergang das Weite stürmen und uns in zwei Stunden eingeholt haben. Nein, diese Information ist schlimmer als nutzlos, sie ist gefährlich. Sie pflanzt alberne Ideen in unsere Köpfe, ein fantastisches Hirngespinst, das dann womöglich einige von uns wahr machen wollen. Denk an David und Jacob. Die sind nie für die Gefangenschaft gemacht gewesen. Sie wollten seit ihrer Geburt hier raus. Glaubst du, du kannst sie zurückhalten, wenn sie es sich erst einmal in den Kopf gesetzt haben?«
Während Epap spricht, macht Sissy etwas Eigenartiges mit ihrer Unterlippe. Ich habe so etwas nie zuvor gesehen und kann den Blick nicht abwenden. Sie beißt mit den oberen Schneidezähnen (keine Reißzähne, ein seltsamer Anblick) auf ihre volle Unterlippe, bis diese weiß wird, und schweigt lange. Als sie Schritte nahen hört, sagt sie: »Tut mir einen Gefallen. Lasst uns vor den anderen nicht weiter darüber reden, okay?«
»Klar«, antworte ich, und dann kommen auch schon David und Jacob mit frischem Brot und Obst herein. Ich esse und trinke, so viel ich kann, die Unterhaltung wird leichter, und die jungen Hepra sind froh, ein neues Gesicht zum Plaudern in ihrer Runde zu haben. Sie erzählen mir von ihrem Leben, ihrem Alltag, dem Kreislauf der Jahreszeiten und ihrer Hassliebe zu der Kuppel: wie sie in heißen Sommernächten jeden Luftzug erstickt und die abgestandene Luft konserviert; wie sie in den Wintermonaten wiederum die Wärme speichert und den kalten Regen und Schnee abhält. Sie erzählen mir, dass sie an Winterabenden gern die Schneeflocken betrachten, die auf die Kuppel fallen und zu feuchten Streifen schmelzen. Bei besonders klirrender Kälte schüren sie manchmal ein Lagerfeuer, so klein, dass der Rauch durch die Poren im Dach der Kuppel entweichen kann. Wenn sie in solchen Nächten um das Feuer sitzen und harmloser Schnee auf die Kuppel fällt, könne man fast glauben, der normale Kreislauf der Welt spiele sich innerhalb der Kuppel ab, während die große Welt jenseits gefallen, gestört und voller Angst ist.
Später am Tag lassen sie mich allein, damit ich mich waschen kann. Und mehr noch: Sie geben mir ein Handtuch, etwas namens »Seife« und versprechen, nicht zu linsen. Sobald ich diesmal am Rand des Teiches meine Kleider ablege, bin ich allein
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