Die Jaeger der Nacht
den Regalen türmen wie Schnee nach einem Lawinenabgang.
Mucki baumelt kopfüber in einem Buchregal. Seine Beine hängen über das oberste Regalbrett, seine Schuhe sind in eine kleine Öffnung gezwängt, um ihn zu halten. In diesem zur Koje umgewandelten Regal ist er eingeschlafen.
Und nicht nur er. Als es heller wird, sehe ich ein paar Regale weiter Rotlippchen ebenfalls vom obersten Brett hängen. Und da baumelt Hagermann von der Decke, den Gürtel um einen Luftschacht geschlungen. Flatterkleid ist an den Kronleuchter in der Mitte gebunden, der unter ihrem Gewicht leicht schräg hängt und sich langsam dreht. Alle Jäger. Sie sind in der Nacht hierhergekommen. Warum, weiß ich nicht.
Ich habe die ganze Zeit in einem Wespennest geschlafen!
Ich versuche, meine Panik zu unterdrücken, und sehe mich in dem Raum um, der mit jeder Sekunde mehr grau als schwarz erscheint, während sich das Licht zu einem intensiveren, längeren Strahl verdichtet. Und dann sehe ich den Haufen vor der Ausleihe: Sonnenumhänge, Schuhe, Sunblocker und Adrenalinspritzen. Ausrüstung und Zubehör für die Jagd.
Sie sind wegen der Jagd hier. Um den Tag hier zu verschlafen, sicher außerhalb des Instituts, wenn die Zentralverriegelung eingeschaltet wird. Die Bibliothek ist der Startpunkt.
Natürlich. Darauf hätte ich auch früher kommen können.
Der Sonnenstrahl wird stärker und länger. Ein furchtbares Gefühl der Unausweichlichkeit legt sich wie eine Schlinge um meinen Hals. Und dann wird mir schlagartig bewusst, was in den nächsten Augenblicken passieren wird.
Zuerst werden die schlafenden Jäger ein leichtes Kribbeln spüren, eine Irritation, die intensiver wird, wenn das Licht ihre Augenlider versengt. Vielleicht leiden sie bereits unter der Wirkung des Lichts, empfinden Übelkeit und Brennen auf der Haut. Sie werden aufwachen und mit Schaum vor dem Mund das Licht flüchten, sich schreiend und zischend im hintersten Winkel der Bibliothek verkriechen.
Und dort werden sie bleiben, in Deckung vor dem immer noch lästigen Sonnenstrahl. Sie werden sich fragen – denn bis zur Abenddämmerung werden sie stundenlang Zeit dazu haben –, was mit dem jungen Jäger los ist, der hier gewohnt hat, wie er überleben konnte. Der junge Jäger, der sich nie über seine Unterkunft oder über irgendwelche Probleme mit Licht beschwert hat; an dem immer ein Geruch von Hepra zu haften schien, wenn man es recht bedenkt …
Ich schüttele den Kopf, um mich aus meinen düsteren Gedanken zu reißen. Denn es bleibt immer noch genug Zeit zum Handeln. Ich muss das Loch einfach verstopfen. Und zwar schnell. Vorsichtig winde ich mich um Bodys baumelnden Körper herum und gehe durch den Raum.
»Ah, da bist du.«
Ich fahre herum. Der Direktor sieht, ein paar Gänge weiter kopfüber von der Decke baumelnd, auf mich herab. »Wir haben dich überall gesucht. Wir konnten dich nicht finden. Und das reizende Mädchen auch nicht. Wir mussten euch doch sagen, dass die Jäger sich zur Jagd in der Bibliothek versammeln. Aber wie dem auch sei, offenbar konnte es euch noch jemand mitteilen.«
»Wir waren …«
»Nein, nein, du musst mir nichts erklären. Ich bin nur froh, dass ihr es noch vor dem Morgengrauen geschafft habt.« Er starrt erst mich an, dann an mir vorbei und sieht sich um. Verwirrung schleicht sich in seinen Blick. »Hast du die Tür offen gelassen? Es ist schrecklich hell hier drinnen.«
»Nein, ich …«
»Du wirkst nervös. Was ist los?«
»Nein, nein, das ist keine Nervosität. Ich bin bloß aufgeregt. Schließlich ist dies der Tag vor der Jagd. In wenigen Stunden geht es los. Fünf oder sechs? Ich weiß nicht genau, wie spät es ist.«
»Wahrscheinlich eher vier. Ich habe gehört, dass ein heftiger Sturm aufzieht. Das heißt, es wird früher dunkel.« Er sieht mich an. »Verlier nicht die Nerven. Immer kühlen Kopf bewahren.«
»Ich weiß. Aber es ist schwer, die Aufregung zu dämpfen. Leute würden töten, um meinen Platz einzunehmen.«
»Ach wirklich?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Gut«, sagt er nickend. »Das ist die Einstellung, die du brauchst.« Sein Blick fixiert etwas links von mir. »Die FLUN s stehen unter mir. Ich dachte mir, ich bewahre sie lieber in sicherem Abstand von den anderen auf.«
»Natürlich.« Die Aktenkoffer stehen ein paar Schritte entfernt. Daneben liegt das Notizbuch des Forschers.
»Ich konnte nicht einschlafen. Also hab ich angefangen in dem Notizbuch zu lesen, das ich auf einem Tisch gefunden habe.«
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