Die Jäger des Lichts (German Edition)
Dolch aus ihrem Gürtel. Epap erwacht und richtet sich kerzengerade auf, als er das Messer in meiner Hand sieht. Er starrt mich fragend an, weil er denkt, dass ich ihr den Gnadentod geben will.
»Noch nicht«, sagt er. »Sie könnte immer noch …«
»Es ist nicht das, was du denkst«, sage ich. Ich drücke die Spitze des Dolches auf meine Handfläche, Blut sickert heraus und sammelt sich. Die Schatter werden in Raserei versetzt. Ich öffne Sissys Mund und lasse das Blut aus meiner Hand hineintropfen.
»Wenn es stimmt, dass ich der Ursprung bin. Wenn ich die Heilung bin, dann ist es vielleicht in meinem Blut.«
Aber Epap schüttelt traurig den Kopf.
»Es ist unsere letzte Chance«, sage ich. »Wir haben nichts zu verlieren.«
Er kann mir kaum in die Augen sehen. »Gene«, sagt er und zeigt auf die Schnittwunde an meiner Schläfe, wo Ashley June mich gekratzt hat. »Du verwandelst dich auch.«
Er hat Recht. Er sieht, was ich geleugnet habe. Meine Blässe, den Schweiß, der auf meiner Haut glänzt, die beginnenden Zuckungen und das Zittern, nicht von dem eisigenWind, sondern von etwas, das viel tiefer geht und viel verheerender ist.
»Du bist nicht der Ursprung«, sagt er, legt sich wieder hin und schließt die Augen. »Du bist nicht das Heilmittel.«
Die Dämmerung kommt. Die Schatter springen wütend und widerwillig vom Zug, einige holen ein letztes Mal aus – in der Hoffnung, einen von uns in einem unbedachten Moment zu erwischen. Schließlich bleiben nur einige wenige Schatter zurück, die zuletzt ebenfalls abspringen und im dichten Wald verschwinden. Ohne die schützende Decke ihrer Leiber bläst der Wind mit unverminderter Kraft durch die Stäbe.
Nur ein Schatter ist übrig, weil er keine andere Wahl hat. Er ist mit dem Kopf voran auf den Waggon gesprungen und hat ihn dabei zwischen zwei Gitterstäbe gerammt. Auch nach stundenlangem Ziehen und Zerren und mit ausgekugelten Schultern und fünffach gebrochenem Kiefer konnte er sich nicht befreien.
Die Sonne geht auf, und seine Schreie hallen in unseren Ohren wider, bis er so weit geschmolzen ist, das er sich zwischen den Stäben löst und auf die Gleise klatscht. Der Zug überfährt ihn und verspritzt das, was von ihm übrig ist.
Doch es ist endlich Morgen, und die Strahlen der Sonne sind eine Erholung vom Grauen der Nacht. Niemand sagt etwas; obwohl es wärmer wird und die Schatter verschwunden sind, sitzen wir immer noch zusammengekauert da.
Ein blasses Mädchen hebt blinzelnd den Blick. Das Entsetzen ist ihm nicht nur ins Gesicht, sondern auf den ganzen Leib geschrieben, auf seine gefalteten Hände, die eng angezogenen Beine. Doch es blitzt auch Hoffnung in seinen Augen auf, eine Vorfreude auf das, was uns erwartet. Die Zivilisation , scheint das Leuchten in seinen Augen zu sagen. Die Zivilisation . Ihr Blick trifft auf meinen, und für ein, zwei Sekunden hält sie ihn. Die Gitterstäbe werfen schräge Schatten auf ihr Gesicht.
Vielleicht sollte ich ihr die Wahrheit sagen. Alles, was Krugman mir erzählt hat. Aber selbst in meinem fiebrigen Zustand habe ich Zweifel, ob es die Wahrheit ist. Denn irgendwas passt nicht recht zusammen. Aber ich sage nichts, sondern wende den Blick ab und senke den Kopf. Das Licht der Sonne brennt in meinen Augen wie Säure. Ihre Strahlen dringen durch die Poren meiner Haut in meine Knochen und kratzen an Nervenenden in meinem Mark, von denen ich gar nichts wusste. Epap hat Recht. Ich verwandle mich. Ich zittere und bebe.
45
Am Nachmittag öffnen wir die Kisten mit Vorräten. Sie enthalten viele warme Kleider, die wir in der Tiefebene nicht brauchen. Wir finden Papier, Schreibwaren und Medikamente. Und unter Jubel auch eine Kiste mit konservierten Pfirsichen. Exakt dreizehn Dosen, was zufällig der Zahl der Passagiere in unserem Waggon entspricht. Bei Einbruch der Nacht könnten es zwei weniger sein. Das Mädchen mit den Sommersprossen verteilt die Dosen. Nach kurzem Zögern stellt sie auch eine neben die immer noch bewusstlose Sissy. Sie ermahnt uns, sparsam zu sein. Niemand weiß, wie lange die Fahrt noch dauern wird.
Epap schreibt den Namen des Besitzers auf jede Dose. Das sei eine gute Methode, unsere Namen zu lernen, meint er. Er versucht, tapfer und stark zu sein. Er schreibt Sissys Name auf ihre Dose. Er will nicht wahrhaben, was nicht zu leugnen ist: In ein paar Stunden müssen wir das Undenkbare tun. Erst mit ihr, dann mit mir. Er kritzelt meinen Namen auf eine Dose, als wolle er etwas bekräftigen.
Ich
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