Die Jagd beginnt
den Mund gedrückt. Die Amyrlin hatte ihr sogar die Nase zugehalten, damit sie es schluckte. Und Nynaeve vergaß nie, was sie einmal erlebt hatte – sie war schrecklich nachtragend. Egwene wusste, dass es keine Möglichkeit gab, sie von ihrer Rache abzuhalten. Bei allem Hochgefühl, dass sie eine Flamme zum Tanzen bringen konnte, hätte sie die Amyrlin niemals an der Wand festgehalten. »Wenigstens wirst du jetzt nicht mehr seekrank.«
Nynaeve brummte und lachte dann kurz auf. »Ich bin zu wütend, um seekrank zu sein.« Nach einem weiteren freudlosen Lacher schüttelte sie den Kopf. »Ich fühle mich zu schlecht, um seekrank zu sein. Licht, ich fühle mich, als hätte mich einer rückwärts durch ein Astloch gezogen. Wenn so der Unterricht bei den Novizinnen aussieht, dann erwarten uns herrliche Zeiten.«
Egwene blickte finster auf ihre Knie. Im Gegensatz zu Nynaeve hatte die Amyrlin lediglich ruhig auf sie eingeredet, ihre Erfolge gelobt, Verständnis für gelegentliches Versagen ausgedrückt und ihr dann wieder Streicheleinheiten geschenkt. Aber alle Aes Sedai hatten behauptet, in der Weißen Burg werde es schwieriger werden, härter, auch wenn keine gesagt hatte, inwiefern. Wenn sie Tag für Tag das durchmachen musste, was Nynaeve erlebt hatte, dann konnte sie das wohl kaum durchhalten.
Etwas änderte sich an der Bewegung des Schiffes. Das Schaukeln ließ nach, und auf Deck über ihren Köpfen trampelten Schritte. Ein Mann rief etwas, das Egwene nicht verstehen konnte.
Sie blickte zu Nynaeve auf. »Glaubst du … Tar Valon?«
»Es gibt nur eine Möglichkeit, um das herauszufinden«, antwortete Nynaeve und nahm entschlossen ihren Umhang vom Haken.
Als sie an Deck kamen, rannten überall Matrosen herum, zogen an Tauen, refften Segel und hielten lange Stangen bereit. Der Wind war zu einer Brise abgeflaut, und die Wolken zerstreuten sich allmählich.
Egwene eilte zur Reling. »Es stimmt! Es ist Tar Valon!« Nynaeve trat mit ausdruckslosem Gesicht neben sie.
Die Insel war so groß, dass es eher so wirkte, als teile sich der Fluss in zwei Arme. Brücken, die aus zarten Spitzen zu bestehen schienen, spannten sich von jedem Ufer zur Insel hinüber. Die Stadtmauer, die Leuchtende Mauer von Tar Valon, glänzte weiß, als die Sonne durch die Wolken brach. Und nahe dem westlichen Ufer erhob sich schwarz der Drachenberg, aus dessen zerrissenem Gipfel eine dünne Rauchfahne quoll. Es war der einzige Berg in einer ebenen, von welligen Hügeln eingerahmten Landschaft. Der Drachenberg, wo der Drache gestorben war. Der Drachenberg, der durch den Tod des Drachen entstand.
Egwene musste wieder an Rand denken, als sie den Berg betrachtete. Ein Mann, der die Macht lenkt. Licht, hilf ihm.
Die Flusskönigin fuhr durch eine breite Öffnung in einer hohen kreisförmigen Mauer, die sich über den Fluss erstreckte. Drinnen zog sich eine lange Kaimauer rund um den Hafen. Matrosen legten die letzten Segel zusammen und verwendeten die Stangen, um das Schiff mit dem Heck nach vorn an den Anlegeplatz zu befördern. Überall an der Kaimauer wurden nun die anderen Schiffe, die ebenfalls den Fluss herunter gekommen waren, an ihre Liegeplätze zwischen die bereits dort befindlichen Schiffe gezurrt. Die Flagge mit der Weißen Flamme lockte Arbeiter herbei, die den schon belebten Kai noch mehr bevölkerten.
Die Amyrlin kam an Deck, bevor noch die Haltetaue festgemacht waren, und Arbeiter brachten sofort einen Laufsteg herbei, als sie erschien. Leane schritt an ihrer Seite, den Stab mit der Flammenspitze in der Hand, und die anderen Aes Sedai auf dem Schiff folgten ihr an Land. Keine von ihnen warf Egwene und Nynaeve auch nur einen Blick zu. Auf dem Kai begrüßte eine Delegation die Amyrlin – Aes Sedai, mit ihren Stolen bekleidet, die sich höflich verbeugten und den Ring der Amyrlin küssten. Auf dem Kai ging es drunter und drüber: Schiffe wurden entladen, die Amyrlin wurde begrüßt, Soldaten formierten sich, um an Land zu gehen, Männer richteten Ladebäume auf; Trompetensignale hallten von der Mauer wider und wetteiferten mit den Hurrarufen der Zuschauer.
Nynaeve schniefte laut. »Es scheint, man hat uns vergessen. Komm mit. Wir holen unser Gepäck.«
Egwene riss sich nur schwer vom Anblick Tar Valons los, aber sie folgte Nynaeve nach unten, um ihre Sachen zu packen. Als sie mit Bündeln auf den Armen wieder nach oben kamen, waren die Soldaten und Trompeter fort, und die Aes Sedai ebenfalls. Männer öffneten die Luken an Deck und
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