Die Jagd beginnt
Lichtschein stammte von dem abnehmenden Mond, der niedrig am Himmel stand. Ein Feuer würde allen jenen ihren Standort verraten, nach denen sie Ausschau hielten. Loial murmelte im Schlaf. Es klang wie leises Donnergrollen. Ein Pferd stampfte mit dem Huf. Hurin hatte die erste Wache. Er saß auf einem Felsvorsprung etwas weiter oben. Bald würde er kommen und Rand wecken, damit dieser die Wache übernähme.
Rand drehte sich um – und erstarrte. Im Mondschein erkannte er die Gestalt Selenes, die sich über seine Satteltaschen beugte. Ihre Hände lagen auf den Schnallen. Ihr weißes Kleid schimmerte im blassen Licht. »Braucht Ihr etwas?«
Sie fuhr sichtlich zusammen und sah zu ihm herüber. »Ihr … Ihr habt mich überrascht.«
Er rollte herum und stand auf. Die Decke ließ er fallen und wickelte sich stattdessen in seinen Umhang. So ging er zu ihr hinüber. Er war sicher, die Satteltaschen gleich neben sich gelegt zu haben, als er sich schlafen legte. Er hatte sie immer an seiner Seite. Nun nahm er sie ihr ab. Alle Schnallen waren zugezogen; sogar diejenigen auf der Seite, die diese verräterische Flagge enthielt. Wie kann mein Leben davon abhängen, dass ich sie behalte? Wenn sie jemand sieht und erkennt, worum es sich handelt, dann werde ich sterben, weil ich sie bei mir habe. Er sah sie argwöhnisch an.
Selene blieb stehen und blickte zu ihm auf. Der Mond spiegelte sich in ihren dunklen Augen. »Ich hatte das Gefühl«, sagte sie, »dass ich dieses Kleid schon zu lange getragen habe. Ich könnte es wenigstens ausbürsten, wenn ich inzwischen etwas anderes zum Anziehen hätte. Vielleicht eines Eurer Hemden.«
Rand nickte und empfand große Erleichterung. Ihr Kleid wirkte auf ihn genauso sauber wie bei ihrem ersten Zusammentreffen, aber er kannte das von Egwene. Wenn sie einen Fleck auf ihrem Kleid entdeckte, half absolut nichts: Sie musste ihn sofort ausreiben. »Natürlich.« Er öffnete die geräumige Tasche, in die er alles bis auf die Flagge hineingestopft hatte, und zog eines der weißen Seidenhemden heraus.
»Danke schön.« Sie fasste sich an den Rücken, an die Knöpfe, wie ihm bewusst wurde.
Mit großen Augen drehte er sich schnell von ihr weg.
»Wenn Ihr mir dabei helft, ist es leichter für mich.«
Rand räusperte sich. »Das verbietet der Anstand. Wir sind doch nicht verlobt oder …« Hör auf, so etwas zu denken! Du kannst niemals jemanden heiraten. »Das wäre nicht schicklich.«
Ihr leises Lachen jagte ihm einen Schauer über den Rücken, als sei sie ihm mit dem Finger am Rückgrat entlanggefahren. Er bemühte sich, nicht auf das Rascheln hinter sich zu lauschen. Er sagte: »Äh … morgen … morgen reisen wir nach Cairhien ab.«
»Und was wird aus dem Horn von Valere?«
»Vielleicht hatten wir Unrecht. Vielleicht kommen sie überhaupt nicht hier entlang. Hurin sagt, es gäbe eine Reihe von Pässen über Brudermörders Dolch. Wenn sie nur ein wenig weiter nach Westen ziehen, müssen sie nicht einmal die Berge überqueren.«
»Aber die Spur, der wir folgten, fand sich hier. Sie werden hier vorbeikommen. Das Horn kommt hierher. Jetzt könnt Ihr Euch umdrehen.«
»Das behauptet Ihr, aber wir wissen nicht …« Er drehte sich um, und die Worte erstarben ihm im Mund. Sie hatte ihr Kleid über dem Arm und trug sein Hemd, das ihr in bauschigen Falten am Körper hing. Es war ein langes Hemd, für seine Körpergröße angefertigt, aber sie war für eine Frau recht groß. So bedeckte das Hemd ihre Schenkel kaum zur Hälfte. Es war ja nicht so, dass er noch nie die Beine eines Mädchens gesehen hatte; die Mädchen der Zwei Flüsse schürzten ihre Röcke immer, wenn sie in den Teichen des Wasserwalds herumwateten. Aber damit hörten sie längst auf, bevor sie alt genug waren, um sich die Haare zum Zopf zu flechten, und noch dazu war es jetzt dunkel, und der Mondschein brachte ihre Haut zum Schimmern.
»Was wisst Ihr nicht, Rand?«
Der Klang ihrer Stimme löste seine Verkrampfung. Mit lautem Keuchen fuhr er herum und sah in die entgegengesetzte Richtung. »Äh … ich glaube … äh … ich … äh …«
»Denkt an den Ruhm, Rand.« Ihre Hand berührte seinen Rücken, und er hätte in seiner Scham beinahe aufgeschrien. »Denkt an den Ruhm für denjenigen, der das Horn von Valere findet. Wie stolz wäre ich, an der Seite dessen zu stehen, der das Horn in Händen hält. Ihr wisst überhaupt nicht, welche Höhen wir gemeinsam erklimmen können, Ihr und ich. Mit dem Horn von Valere in der Hand
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