Die Jagd beginnt
Ihr mit ihr?«, schrie Min. »Egwene? Hört auf!«
»Du schuldest dein Leben … Min, so heißt du doch?«, sagte Renna sanft. »Lass dies auch dir eine Lehre sein. So lange du dich einzumischen versuchst, wird es nicht aufhören.«
Min hob die Faust, ließ sie aber wieder fallen. »Ich werde mich nicht einmischen. Nur hört bitte auf! Egwene, es tut mir so Leid.«
Die unsichtbaren Schläge gingen noch ein paar Augenblicke weiter, als sollte das Min zeigen, dass ihr Eingreifen nichts bewirkt hatte, und dann hörten sie auf. Doch Egwene konnte ihr Zittern nicht beherrschen. Der Schmerz verflog diesmal nicht so schnell. Sie schob ihren Ärmel zurück, um nachzusehen, ob sich Striemen zeigten, doch da war nichts außer dem Gefühl. Sie schluckte. »Es war nicht deine Schuld, Min.« Bela warf den Kopf hoch und rollte die Augen. Egwene streichelte den Hals der zerzausten Stute. »Deine Schuld war es auch nicht.«
»Es war allein deine Schuld, Egwene«, sagte Renna. Es klang so geduldig, als spreche sie freundlich mit jemandem, der zu dumm war, um die Wahrheit zu erkennen. Egwene hätte am liebsten geschrien. »Wenn eine Damane bestraft wird, ist es immer ihre Schuld, auch wenn sie nicht weiß, warum. Eine Damane muss voraussehen, was ihre Sul’dam wünscht. Aber diesmal kennst du den Grund. Damane sind wie Möbelstücke oder Werkzeuge, immer da, um benutzt zu werden, aber sie treten nie in den Vordergrund, um Aufmerksamkeit zu erregen. Besonders nicht, um die Aufmerksamkeit einer von adligem Blut zu erregen.«
Egwene biss sich auf die Lippe, bis sie Blut schmeckte. Das ist ein Albtraum. Es kann doch nicht wahr sein. Warum hat Liandrin ihnen das angetan? Warum das alles? »Darf … darf ich eine Frage stellen?«
»Mir darfst du Fragen stellen.« Renna lächelte. »Im Laufe der Jahre werden viele Sul’dam dein Armband tragen – es gibt immer viel mehr Sul’dam als Damane –, und manche würden dir das Fell über die Ohren ziehen, sobald du auch nur den Blick vom Boden hebst oder deinen Mund ohne Erlaubnis öffnest, aber ich sehe keine Notwendigkeit, dir das Sprechen zu untersagen, solange du dich vorsiehst, was du sagst.« Eine der anderen Sul’dam schnaubte laut. Sie war mit einer hübschen, dunkelhaarigen Frau von mittleren Jahren verbunden, die immer nur auf ihre Hände blickte.
»Liandrin …« – Egwene würde nie wieder die Ehrenbezeichnung für sie benutzen – … »und die Hochlady sprachen von einem Herrn, dem sie beide dienten.« In ihr keimte die Erinnerung an einen Mann mit kaum verheilten Brandwunden im Gesicht auf, dessen Augen und Mund manchmal zu Feueröfen wurden, doch selbst wenn er nur eine Traumgestalt war, wollte sie doch nicht an ihn denken, so schrecklich war er. »Wer ist das? Was will er von mir und … und Min?« Sie wusste, es war überflüssig, Nynaeves Namen zu verschweigen. Keiner von diesen Leuten würde sie vergessen, nur weil ihr Name nicht erwähnt wurde. Besonders diese blauäugige Sul’dam , die ihre eingerollte Leine streichelte, würde sich an sie erinnern. Aber es war für sie im Moment die einzige Möglichkeit, ihren Kampfgeist unter Beweis zu stellen.
»Die Angelegenheiten derer von adligem Blut«, sagte Renna, »gehen mich nichts an, und dich schon gar nicht. Die Hochlady wird mir sagen, was ich wissen soll, und ich werde dir wiederum sagen, was du wissen musst. Alles andere, was du hörst oder siehst, muss für dich sein, als habe es nie stattgefunden, als sei es ungesagt geblieben. So ist man sicherer, ganz besonders als Damane . Damane sind zu wertvoll, um sie so einfach zu töten, aber du könntest nicht nur streng bestraft werden, sondern möglicherweise auch deine Zunge oder deine Hände einbüßen. Damane können auch ohne diese Dinge arbeiten.«
Egwene schauderte, obwohl es nicht sehr kalt war. Sie zog ihren Umhang höher hinauf und berührte dabei die Leine. Sie zog ein wenig daran. »Das ist ein furchtbares Ding. Wie könnt Ihr jemandem so etwas antun? Welcher kranke Geist hat das erfunden?«
Die blauäugige Sul’dam mit der losen Leine grollte: »Die könnte sehr wohl ohne Zunge auskommen, Renna.«
Renna lächelte nur geduldig. »Warum ist das furchtbar? Wie könnten wir jemanden in Freiheit herumlaufen lassen, der fertig bringt, was eine Damane alles kann? Manchmal werden auch Männer geboren, die eine Marath’Damane wären, falls sie als Frauen geboren wären – ich habe gehört, dass das hier auch der Fall ist –, und sie müssen natürlich
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