Die Jagd beginnt
Tür.
Niemand versuchte, sie aufzuhalten. Soweit sie sagen konnte, befand sich niemand in dem Gebäude. Die meisten Falmer waren draußen auf der Straße und versuchten sich darüber klar zu werden, ob sie alle gemeinsam verrückt geworden waren. Sie ging durch das Haus in den Garten dahinter, und da war er.
Rand lag auf dem Rücken unter einer Eiche. Sein Gesicht war bleich, die Augen hatte er geschlossen, und die linke Hand hielt noch einen Schwertgriff mit einer Klinge, die nur noch etwa einen Fuß lang war. Der Rest schien geschmolzen zu sein. Seine Brust hob und senkte sich langsam, aber nicht im regelmäßigen Rhythmus gesunden Schlafs.
Sie atmete tief ein, um sich etwas zu beruhigen, und dann überlegte sie, was sie für ihn tun konnte. Zuerst musste sie diese verstümmelte Klinge loswerden. Falls er um sich schlug, könnte er sich damit verletzen. Also öffnete sie mühsam seine Faust und zuckte zusammen, als sie merkte, dass der Schwertgriff an seiner Handfläche festklebte. Dann hatte sie es geschafft und warf den Stummel angewidert zur Seite. Der Reiher vom Griff hatte sich in seine Handfläche eingebrannt. Doch das war offensichtlich nicht der Grund dafür, dass er bewusstlos hier lag. Wie ist das nur passiert? Nynaeve muss später Salbe darauf streichen. Eine oberflächliche Untersuchung zeigte ihr, dass die meisten seiner Schnitte und Abschürfungen nicht neu waren. Zumindest war Zeit gewesen, dass das Blut eine Kruste gebildet hatte, und die blauen Flecken färbten sich am Rande schon gelblich. Auf der linken Seite war ein Loch in den Mantel gebrannt. Sie öffnete den Mantel und zog sein Hemd hoch. Dann pfiff sie scharf durch die Zähne. Tief in sein Fleisch hinein war eine Wunde gebrannt, die sich allerdings offensichtlich von selbst desinfiziert hatte. Was sie erschütterte, war die Temperatur seiner Haut. Sie fühlte sich an wie Eis, und die kalte Luft dieses Tages wirkte warm dagegen.
Sie packte ihn an den Schultern und schleifte ihn zum Haus. Er war schlaff – tote Masse. »Großer Klotz«, schimpfte sie. »Warum kannst du nicht klein und leicht sein? Nein, du musst solche Beine und Schultern haben! Ich sollte dich hier draußen liegen lassen.«
Sie plagte sich die Treppe hinauf und gab Acht, dass er nicht häufiger anstieß als notwendig. Dann schleifte sie ihn ins Haus. Drinnen ließ sie ihn liegen, richtete sich auf und rieb sich erst einmal den Rücken. Sie knurrte etwas über das Muster in sich hinein und suchte hastig herum. Es gab hinten im Haus ein kleines Schlafzimmer. Vielleicht gehörte es einem Diener. Jedenfalls enthielt es ein Bett mit genügend Decken, und im Kamin waren Scheite aufgeschichtet. Nach einigen Augenblicken hatte sie das Feuer entfacht, die Decken zurückgeschlagen und eine Lampe auf dem Nachttisch angezündet. Dann lief sie zurück, um Rand zu holen.
Es war keine leichte Aufgabe, ihn in das Zimmer und auf das Bett zu befördern, aber sie brachte es dann doch schwer atmend fertig und deckte ihn zu. Einen Moment später steckte sie die Hand unter seine Decken, verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Die Decken waren bereits eiskalt. Er besaß keine Körperwärme, um sie aufzuwärmen. Mit einem leicht übertriebenen Seufzer schlüpfte sie zu ihm unter die Decken. Dann legte sie seinen Kopf an ihre Schulter. Seine Augen waren nach wie vor geschlossen, und sein Atem ging unregelmäßig. Sie glaubte, wenn sie erst zu Nynaeve rannte, könne er in der Zwischenzeit gestorben sein. Er braucht eine Aes Sedai , dachte sie. Ich kann ihn lediglich ein wenig wärmen. Eine Weile musterte sie sein Gesicht. Sie sah dabei wirklich nur sein Gesicht, denn wenn jemand bewusstlos war, konnte sie nicht in seine Zukunft sehen. »Ich mag ältere Männer«, erzählte sie ihm. »Ich mag gebildete Männer mit Geist. Ich interessiere mich nicht für Bauernhöfe, Schafe und Schafhirten. Noch dazu für so junge Schafhirten.« Seufzend wischte sie ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Er hatte seidenweiches Haar. »Aber du bist ja eigentlich auch kein Schäfer, oder? Nicht mehr jedenfalls. Licht, warum musste mich das Muster nur ausgerechnet mit dir zusammenwerfen? Warum nicht irgendein sicheres und unkompliziertes Schicksal, wie zum Beispiel schiffbrüchig auf einer Insel ohne Nahrung und zusammen mit einem Dutzend hungriger Aielmänner leben?«
Aus dem Flur hörte sie kein Geräusch, und doch öffnete sich die Tür. Sie hob den Kopf. Egwene stand im Zimmer und betrachtete die Szene mit
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