Die Jahre der Toten: Roman (German Edition)

sind, und ihm sagen, dass er die Katakomben verrammeln soll– aber der nimmt keine Anrufe mehr entgegen.«
    » Warum nicht?«
    » Weil er nicht mehr da ist. Man hat die Zellen in der Hauptstadt zurückbeordert, um das Hauptquartier zu verstärken. Wir können eine ganze Weile unbesorgt fahren.«
    Anna schwieg eine Zeit lang. Mason musterte sie von der Seite– und sah, dass die Mündung ihrer Pistole auf seine Brust gerichtet war.
    » He! He!«, protestierte er. » Was soll das?«
    » Wenn Sie erwarten, dass ich Ihnen vertraue«, sagte Anna, » irren Sie sich. Sie haben uns entführt, verhört und unter Bedingungen eingesperrt, die sich als tödlich hätten erweisen können.« Sie deutete mit einem Finger auf Julie, die sich zitternd auf dem Rücksitz des Wägelchens zusammenrollte. » Und jetzt sind Sie urplötzlich unser bester Freund. Bei aller Liebe, Mason, das kaufe ich Ihnen nicht ab. Wo stehen Sie?«
    Mason brüllte vor Lachen.
    » Was glauben Sie denn? Dass ich Sie in die Falle locke, nachdem ich vier unserer Leute getötet und Agenten beschossen habe, mit denen ich seit fünf Jahren zusammenarbeite? Oder glauben Sie, wir spielen Ihnen nur was vor? Warum? Welchen Zweck würde es erfüllen? Mein Gott, Sie müssten sich selbst reden hören. Sie klingen wie ein irrer Paranoiker. Wo ich stehe? Ich will noch nicht sterben! Reicht Ihnen das? Drei sind besser als einer, und wie gesagt: Sie sind die wichtigste Expertin für den Morgenstern-Erreger. Ich würde sagen, dass ich eine verdammt gute Wahl getroffen habe, Sie da rauszuholen. Jetzt wissen Sie, wo ich stehe.«
    Mason lenkte das Fahrzeug um eine weitere sanfte Kurve im Tunnel. Sie hatten mehrere Kreuzungen passiert. Anna wusste, dass sie den Rückweg nie wieder finden würde, nicht mal dann, wenn sie es wollte. Das Gangnetz als Katakomben zu bezeichnen war eigenartigerweise adäquat, denn es war hier feucht, zwielichtig und deprimierend, doch das Wort Labyrinth schien ihr doch irgendwie besser zu allem zu passen.
    » Na schön«, sagte sie nach einer Weile und ließ die Pistole auf ihren Schoß sinken.
    Mason schien sich auf seinem Sitz leicht zu entspannen.
    » Ich hatte aber den Eindruck, dass Julies Schicksal Sie wenig geschert hat.«
    Mason musterte Anna verärgert. Dann sagte er auf überzeugende Weise: » Ich hatte wirklich vergessen, dass sie da unten war. Sawyer übernahm ihre Verhöre. Ich wurde von dem Fall abgezogen. Wenn Sie glauben, dass ich sie zurücklassen wollte, weil ich kaltherzig bin oder sie als Klotz am Bein empfinde, dann scheiße ich auf Ihren Glauben. Ich bin nicht Sawyer. Ich bin ein Mensch. Hätte ich an sie gedacht, bevor meine Gelegenheit kam, hätte ich sie in meinen Plan eingearbeitet. Ich mag vielleicht vergesslich sein, aber ich bin kein gefühlloser Schweinehund. Aber ich musste mir in letzter Zeit eine Menge merken, sodass man kaum erwarten kann, dass ich mich an den Zustand jedes Häftlings erinnere, der in unserem Laden war.« Er schaute nach hinten und begutachtete die Journalistin auf dem Rücksitz. Dann fügte er hinzu: » Sie sieht wirklich krank aus, nicht nur abgemagert.«
    » Könnte eine Lungenentzündung sein.« Anna musterte die flackernden Leuchtstoffröhren, an denen sie vorbeifuhren. » Ich weiß es aber erst, wenn ich sie genauer untersuche. Ich bin zwar keine Allgemeinmedizinerin, will aber tun, was ich kann. Im Moment frage ich mich allerdings etwas anderes. Was war überhaupt heute los? Was ist draußen in der Stadt los? Auf der Welt? Ich muss es wissen. Man hat mir rein gar nichts erzählt.«
    Mason verzog das Gesicht. » Es sieht nicht gut aus.«
    Anna zuckte zusammen. Das hatte sie nun nicht gerade hören wollen.
    » Was Sie heute gehört haben, war unser privates Alamo«, erläuterte Mason. » Die Infizierten beherrschen mehrere Stadtteile Washingtons. In den Straßen oben herrscht Krieg. Damit meine ich nicht, dass die Stadt unter Kriegsrecht steht, weil es Tumulte und Ausschreitungen gibt, sondern dass dort richtig Krieg geführt wird. Als ich zum letzten Mal oben war…vorgestern… habe ich einen Panzer auf einen Wohnkomplex feuern sehen. Das ganze Haus wimmelte von ihnen. Ich habe Soldaten Massen von Infizierten abschlachten sehen. Und ich habe das gleiche Einsatzkommando von der anderen Seite unter einer Woge Infizierter untergehen sehen. Auf mehrere Großstädte wurden Luftangriffe geflogen. Man hat ganze Häuserblocks eingeebnet. Und jetzt die gute Nachricht: Diese Taktik ist hier und da