Die Jahre der Toten: Roman (German Edition)
riskante Weise, in der er an diesem Block vorbeigelaufen war. Er wusste, dass es eine eigene Verteidigung hatte, dass es nicht gut war, jede Alarmanlage im Inneren auszulösen und dabei vielleicht mit Blei gespickt zu werden. Er ging vorsichtig über den Ziegelweg zur Haustür. Dabei behielt er die ihn umgebende Dunkelheit nervös im Auge, denn sie konnte Überträger der Morgenstern-Seuche verbergen oder– ebenso schlimm– einen blutdurstigen Zivilisten.
Der Mann nahm eine Stufe nach der anderen. Holz knirschte unter seinen Füßen. Seine Atemzüge waren schwer und laut in dem stummen Zwielicht, als er eine Hand nach dem Türknauf ausstreckte.
Seine Finger blieben wenige Zentimeter vor dem Knauf in der Schwebe. Der Mann hatte durch die Türscheiben ein blinkendes rotes Licht wahrgenommen. Die Alarmanlage war also tatsächlich aktiv. Er wich einen Schritt zurück. Obwohl er ein vorsichtiger Mensch war, hatte er nicht damit gerechnet, dass sich jemand im Haus aufhielt. Eigentlich hätte es seit einer Woche leer sein müssen.
Da waren Ermittlungen vonnöten.
Wie gut, dass er eine hohe Sicherheitsstufe hatte und alles über Unterschlupfe wusste. Ohne seine Expertise hätte er nämlich nicht gewusst, dass das Küchenfenster von keiner Alarmanlage geschützt wurde. Der Grund? Ein Agent oder eine Agentin musste auch ohne den nötigen Sicherheitscode Zutritt zu einem solchen Haus haben. Die finstere Straße im Auge behaltend, ging der Mann auf Zehenspitzen um das Haus herum. Er wollte keine Geräusche machen. Er zog eine Minitaschenlampe aus der Hosentasche und drehte das Ende, um sie einzuschalten. Er leuchtete den Rahmen des Küchenfensters ab, um nachzusehen, ob man vielleicht irgendwelche zur Sicherung des Hauses nötigen Veränderungen vorgenommen hatte. Da er nichts dergleichen sah, schaltete er die Lampe aus, steckte sie ein und zückte stattdessen ein Taschenmesser.
Da der Mann hinter sich etwas hörte, fuhr er mit der Pistole in der Hand herum und musterte wachsam die Umgebung. Eine Zeit lang holte er weder Luft, noch bewegte er sich. Als ihn aus dem Dunkel nichts ansprang, entspannte er sich und wandte sich wieder dem Fenster zu. Er schob die Messerklinge unter den Fensterrahmen und verschob es, bis das altmodische Schnappschloss nach oben flutschte. Mit der freien Hand zog er die Klinge zurück, dann schob er das Fenster lautlos nach oben.
Er war drin.
Ein Blick übers Grundstück, dann klemmte er die Pistole hinter den Hosengürtel und schob so leise wie möglich ein Bein über die Fensterbank. Als er spürte, dass sein Fuß auf der anderen Seite Linoleum berührte, verlagerte er sein Gewicht und hievte den Rest des Körpers ins Haus.
Er fuhr herum und ließ das Fenster vorsichtig, doch schnell, wieder nach unten gleiten.
Er hatte Stimmen im Hausinneren gehört. Die Pistole war schon wieder in seiner Hand. Lieber vorsichtig als tot. Er wusste, dass immer die Möglichkeit bestand, auf Kollegen zu stoßen, die ebenfalls einen Unterschlupf brauchten. In diesem Fall war seine ganze Vorsicht zwar umsonst gewesen, doch die Chance war ebenso groß, dass die im Hause anwesenden Personen hier nichts zu suchen hatten.
Der Mann bewegte sich am Kühlschrank vorbei. Er war mit Farbstiftzeichnungen bedeckt, die aussahen, als stammten sie von einem Kind. Auf den Beistelltischen standen Bilder einer nicht existierenden Familie. Dann ging es durch den mit Laminat ausgelegten Korridor zur Tür, die zum Keller führte. Die Tür stand etwa einen Zentimeter weit offen.
Der Mann schob den Lauf der Pistole in den Spalt und setzte ihn als Hebel ein, um die Tür langsam so weit aufzuschieben, dass er die Treppe hinabschauen konnte. Die zweite Tür– sie befand sich am unteren Ende der Treppe und sollte im Krisenfall zusätzlichen Schutz bieten– stand offen und warf einen Lichtschein hinaus.
Nun waren die Stimmen deutlicher zu hören. Es klang nach wenigstens einer Frau und einem Mann. Ihre Worte konnte er nicht verstehen.
Die Treppenneigung hätte dem Mann, wenn er ein paar Stufen hinabgegangen wäre, Einblick in den Raum gestattet, doch ihn verlangte nicht danach, sein Gewicht auf ein knarrendes Brett zu stellen und sich zu verraten. Außerdem hatte er nun mehr als nur eine vage Vorstellung, wer sich dort unten befand.
Seine vorgesetzte Dienststelle hatte ein Bulletin versandt, das jedermann in der Stadt anwies, nach einem abtrünnigen Agenten und zwei entwischten Flüchtlingen Ausschau zu halten. Laut dieser Meldung
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