Die Jahre mit Laura Diaz
Georg, ich hänge von dir ab. Bitte, Georg, rette mich. Komm nach Havanna, bevor deine Raquel nicht einmal mehr weinen kann. Hat Jesus nicht gesagt: ›Wenn sie dich aber in einer Stadt verfolgen, so flieh in eine andere‹? Gelobt sei Jesus Christus!«
MAURA: »Ich frage dich eines, Vidal: Wird nicht jedesmal das von dir verteidigte Ideal unmöglich, wenn man auch nur ein einziges Individuum wegen der Sünde beseitigt, zusammen mit uns, aber anders als wir zu denken? Denn wir Republikaner sind alle für die Republik und gegen den Faschismus, doch wir unterscheiden uns voneinander, Azafia ist nicht wie Prieto, Companys nicht wie Durruti, José Dîaz nicht wie Largo Caballero und Enrique Lister nicht wie Juan Negrm; und doch keiner von ihnen Franco, Mola, Serrano Sufier oder Doval, der Unterdrücker Asturiens.«
VIDAL: »Wir haben niemanden zurückgewiesen. Alle haben ihren Platz in der breiten Front der Linken.«
MAURA: »Das gilt so lange, wie die Linke nach der Macht strebt. Aber wenn sie an die Macht kommt, übernimmt es die KP, all jene zu beseitigen, die nicht wie sie denken.«
VIDAL: »Zum Beispiel?«
MAURA: »Bucharin.«
VIDAL: »Nenn mir einen anderen außer diesem Verräter.«
MAURA: »Victor Serge. Eine Frage: Ist es revolutionär, sich nicht für das Schicksal eines Genossen zu interessieren, dem man seine öffentliche Position genommen hat, den man ohne Gerichtsurteil deportiert und für immer von seinen Angehörigen getrennt hat, allein deshalb, weil er ›nur ein Individuum‹ ist und ein einzelnes, einsames Individuum im großen kollektiven Epos der Geschichte nicht zählt? Ich entdecke keinen Verrat bei Bu-charin, der Rußland mit seinem Projekt eines pluralistischen, humanen, freien und aus all diesen Gründen stärkeren Sozialismus vor dem stalinistischen Terror hätte retten können.«
VIDAL: »Ziehen wir endlich einen Schlußstrich und revenons à nos moutons. Was sollte eurer Meinung nach, Maura und Balta-zar, die Republik tun, um Sieg und Ethik gemeinsam zu erreichen?«
MAURA: »›Man muß das Leben ändern‹, hat Rimbaud gesagt. ›Man muß die Welt verändern‹, hat Marx gesagt. Beide irren sich. Man muß das Leben vielgestaltiger machen. Man muß die Welt vervielfältigen. Man muß die romantische Illusion aufgeben, daß die Menschheit erst glücklich wird, wenn sie die verlorene Einheit wiedererlangt. Man muß die Illusion der Totalität aufgeben. Das Wort sagt es schon, vom Verlangen nach Totalität ist es nur ein Schritt zur totalitären Realität.«
VIDAL: »Du hast durchaus das Recht, die Einheit geringzuschätzen. Aber ohne Einheit gewinnt man keinen Krieg.«
MAURA: »Dafür aber eine bessere Gesellschaft. Wollen wir das nicht alle?«
VIDAL: »Wie denn, Maura?«
MAURA: »Indem wir die Unterschiede achten.«
VIDAL: »Und die Identität?«
MAURA: »Die Identität wird von einer Kultur der Unterschiede gestärkt. Oder glaubst du, eine befreite Menschheit wäre eine vollkommen geeinte, identische, einförmige Menschheit?«
VIDAL: »Was du sagst, hat keine Logik.«
MAURA: »Die Logik ist nur eine Sache, sie ist eine Art zu sagen: Nur das hier hat einen Sinn. Du als Marxist solltest an die Dialektik denken, die zumindest eine Alternative ist, ein ›dies hier oder jenes anderem«
VIDAL: »Das die Einheit der Synthese ergibt.«
MAURA: »Die sich sofort wieder in These und Antithese aufspaltet.«
VIDAL: »Also, woran glaubst du dann?«
MAURA: »An ein sowohl als auch und an noch mehr. Hältst du das für Wahnsinn?«
VIDAL: »Nein. Ich halte es für politisch unbrauchbar.«
BALTAZAR: »Darf ich etwas sagen, meine sokratischen Freunde? Ich glaube nicht an ein glückliches Jahrtausend. Ich glaube an die Chancen der Freiheit. In jeder Stunde. An allen Tagen. Wenn du sie vorbeigehen läßt, kehren sie nicht wieder, wie die Schwalben in dem Gedicht Bécquers. Und wenn ich mir das kleinste Übel aussuchen soll, entscheide ich mich lieber für gar keines. Ich glaube, Politik ist für die persönliche Anständigkeit zweitrangig, denn ohne Anständigkeit lohnt es sich nicht, in einer Gesellschaft zu leben. Und ich fürchte sehr, wenn wir, die Republik, die wir alle sind, nicht beweisen, daß wir die Moral höher achten als die Mittel, die Mittel zum Zweck, wird sich das Volk von uns abwenden und sich dem Faschismus anschließen, weil der Faschismus keine Zweifel hat, was unmoralisch ist; wir aber.«
MAURA: »Und deine Schlußfolgerung, Basilio?«
BALTAZAR: »Daß der wahre
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