Die Jahre mit Laura Diaz
ausgehend von einer einfachen These die Phänomenologie begründet hatte: Als erstes akzeptiert man die Erfahrung, danach denkt man. Er war nicht mehr der Göttinger Husserl, der seine Aufmerksamkeit hauptsächlich auf das konzentriert hatte, was noch nicht interpretiert war, denn da kann das Geheimnis der Dinge liegen. Er war der Freiburger Husserl, der Lehrmeister Jorges und Raquels, nach dessen Auffassung die sittliche Freiheit des Menschen von einer einzigen Sache abhängt: daß man das Leben gegen alles verteidigt, was es bedroht. Er war der Husserl, der den Zusammenbruch der europäischen Kultur im Ersten Weltkrieg gesehen hatte.
»Das verstehe ich nicht, Georg. Er verlangt von uns, die Phänomene auf das reine Bewußtsein zu reduzieren, auf so etwas wie ein Kellergeschoß, unter dem es nichts Reduzierbares mehr gibt. Können wir nicht tiefer graben, weiter nach unten gelangen?«
»Also ich glaube, in diesem Kellergeschoß, wie du es nennst, sind Natur, Körper und Geist. Das ist schon ziemlich viel. E dopoï Wohin will uns der Alte führen?«
Als könnte er die Gedanken seiner Schüler mit seinen Adleraugen lesen, deren Ungestüm sie so sehr von seinem unbeweglichen Taubenhals unterschied, von seinem Vorhemd, seiner Weste, über der eine Uhrkette baumelte, von seinem altmodischen schwarzen Gehrock, seiner Hose, deren Beine oft über die schwarzen Halbstiefel herabhingen – als könnte er Gedanken lesen, sagte Husserl zu ihnen, nach dem Großen Krieg sei die europäische Geisteswelt zusammengebrochen, und wenn er eine Reduktion des Denkens auf die Grundlagen von Geist und Natur selbst vertrete, so geschehe das nur, um das Leben Europas, seine Geschichte, seine Gesellschaft und seine Sprache zu erneuern.
»Ich begreife die Welt nicht ohne Europa und Europa nicht ohne Deutschland. Ein europäisches Deutschland, das zum Besten gehört, was Europa der Welt verheißen hat. Ich treibe keine abstrakte Philosophie, meine Damen und Herren. Ich bin im Besten verwurzelt. Was wir getan haben. Was uns überleben wird. Unsere Kultur. Was Ihre Kinder und Enkel inspirieren kann. Ich werde es nicht erleben. Darum lehre ich es. Ich eile meinem Tod voraus.«
Danach gingen die beiden aus, um in einem fröhlichen Studentenkeller zu feiern, den sie sonst meist wegen der dort herrschenden lärmenden Geselligkeit mieden, doch in dieser Nacht staunten und lachten alle über die Trinksprüche, die Raquel und Jorge mit hocherhobenen Bierkrügen ausbrachten: »Hoch die Intersubjektivität! Hoch die Gesellschaft, die Sprache und die Geschichte, die alles miteinander in Beziehung setzen! Wir sind nicht voneinander getrennt! Wir sind ein Wir, das durch Sprache, Gemeinschaft und Vergangenheit verbunden ist!«
Sie erregten Gelächter, Sympathie, Tumult und laute Rufe: »Wann heiratet ihr? Können sich zwei Philosophen im Bett vertragen? Stimmt es, daß euer erster Sohn ›Sokrates‹ heißen wird? Oh, Intersubjektivität, komm zu mir, erlaube mir, daß wir uns gegenseitig durchdringen!«
Sie betraten den Dom, nachdem sie mit erstaunten, verstehenden und sinnlichen Blicken an seinen Seiten entlanggelaufen waren, denn gerade dort, an diesem berühmten, im frühen 16. Jahrhundert fertiggestellten Münster, hatten sie eine vollkommene Veranschaulichung dessen entdeckt, was sie beschäftigte, als kehrten die Lehren des Meisters auf dem Tympanon wieder, nicht um zu ergänzen, sondern um dort wiedergeboren zu werden: Das Tympanon stellte die Erbsünde dar, hier, an der Domseite, ging sie der Schöpfung voraus, die an der Archivolte geschildert wurde und ihnen mitteilte, daß die Schöpfung sie von der Sünde erlöst hatte und sie hinter sich zurückließ. Der Sündenfall war nicht die Folge der Schöpfung, es gibt keinen Sündenfall, sagten sich die Freiburger Liebenden, es gibt einen Ursprung, und danach gibt es die Schöpfung.
An der Westseite des Gebäudes dagegen tritt Satan als »Fürst dieser Welt« auf und führt eine Prozession an, die sich nicht nur von der Erbsünde, sondern auch von der göttlichen Schöpfung entfernt. Dem teuflischen Zug gegenüber öffnet sich jedoch das Hauptportal des Doms, und dort, nicht draußen, sondern drinnen, oder vielmehr im Eingang des Kirchenraums, wird die Erlösung dargestellt und erklärt.
Sie traten durch dieses Portal, und fast so wie bei der Kommunion, nebeneinander auf den Knien, ohne die geringste Angst, sich lächerlich zu machen, beteten sie laut:
»Wir werden zu uns selbst
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