Die Jahre mit Laura Diaz
zurückkehren, wir werden so denken, als gründeten wir eine Welt, wir werden lebendige Subjekte der Geschichte sein, wir werden die Welt des Lebens erleben.«
Die Nazis vertrieben Husserl aus Freiburg und aus Deutschland. Der alte Emigrant lehrte in Wien und Prag weiter, während sich ihm die Wehrmacht immer wieder bedrohlich näherte. Zum Sterben ließen sie ihn in sein geliebtes Freiburg zurückkehren, der Philosoph hatte ja schon gesagt, daß es im Inneren jedes Juden eine absolute Neigung und Liebe zum Martyrium gebe. Seine Schülerin Edith Stein hingegen, die tatsächlich als Nonne in ein Karmeliterinnenkloster eingetreten war, nachdem sie Israel entsagt und sich zum Christentum bekehrt hatte, sollte im selben Jahr erklären: »Unheil wird über Deutschland hereinbrechen, wenn Gott die an den Juden verübten Greuel rächt.« Es war das Jahr der Kristallnacht, die Goebbels organisierte, um die Synagogen, die jüdischen Geschäfte und die Juden selbst zu vernichten. Hitler kündigte seine Absicht an, die jüdische Rasse in Europa für immer auszurotten.
Es war das Jahr, in dem Jorge Maura in Mexiko Laura Dïaz kennenlernte und in dem Raquel Mendes-Alemân, die einen Davidstern an der Brust trug, die SS mit dem Ruf »Gelobt sei Jesus Christus!« auf der Straße begrüßte und das auch am Boden wiederholte, als sie blutete, getreten und geschlagen wurde. »Gelobt sei Jesus Christus!«
Am 3. März 1939 lief der Dampfer »Prinz Eugen« des Lloyd Triestino von Hamburg aus, er hatte zweihundertvierundzwanzig jüdische Passagiere an Bord, die überzeugt waren, daß sie Deutschland nach dem Terror des 9. November 1938, der Kristallnacht, als letzte verlassen konnten, was sie einer ganzen Reihe von Umständen zu verdanken hatten, von denen einige mit den wahnsinnigen Zahlenspielen der Nazis zu tun hatten (wer ist Jude? – das Kind eines jüdischen Vaters und einer jüdischen Mutter oder auch das eines einzigen hebräischen Elternteils, beziehungsweise die Nachkommen von weniger als drei arischen Großelternteilen und so weiter, bis zur Generation Abrahams?), andere mit dem Reichtum einiger Juden, die ihre Freiheit erkaufen konnten, indem sie Geld, Gemälde, Villen, Möbel (wie die Familie Ludwig Wittgensteins in dem vom Reich annektierten Österreich) an die Nazis ablieferten, wieder andere mit alten Bekannten, die nun Nazis waren, jedoch herzliche Erinnerungen an ihre früheren hebräischen Freunde bewahrten, und manche Frauen hatten sich einem Bonzen des Regimes hingegeben, um wie Judith ihre Eltern und Geschwister zu retten: Aber der Holofernes des Hakenkreuzes war unsterblich. Anderen schließlich hatten Konsularbeamte geholfen, die sich mit oder ohne Genehmigung ihrer Regierungen für einzelne Juden einsetzten.
Raquel trug seit dem Tag, an dem die SS sie geschlagen hatte, das Kreuz Christi neben dem Davidstern, und am Ende schloß sie sich in ihrem kleinen Hamburger Studierzimmer ein, weil diese doppelte Herausforderung bedeutete, daß man an ihrer Haustür auf sie warten würde, mit scharfen Hunden ohne Maulkorb und mit Knüppeln in den Fäusten: »Komm heraus, wage es, du jüdische Hure, du verdorbener Same Abrahams, du slawische Pest, du levantinische Laus, du zigeunerisches Krebsgeschwür, komm heraus, wage es, du andalusische Dirne, versuch doch, Essen zu finden, wühle in den Winkeln deines Schweinestalls, du Sau, friß Staub und Schaben. Wenn ein Jude Gold fressen kann, dann kann er auch Ratten fressen.«
»Sie haben die Nachbarn gewarnt, wenn sie mir zu essen gäben, verlören sie selber als erstes ihre Rationen, und wenn sie rückfällig würden, müsse man sie in ein Lager schicken: Ich, Raquel Mendes-Alemân, habe beschlossen, für meine jüdische Rasse und meine katholische Religion den Hungertod zu erleiden, ich habe beschlossen, Georg, die Zeugin meiner Zeit zu sein, uneingeschränkt, und ich habe erfahren, daß es keine Rettung für mich gibt, als die Nazipartei erklärte, daß ›unsere schlimmsten Feinde die katholischen Juden sind‹. Da habe ich mein Fenster aufgerissen und zur Straße hinuntergerufen: ›Der heilige Paulus hat gesagt: Ich bin Hebräer! Ich bin Hebräer! Ich bin Hebräer!‹ Und meine eigenen Nachbarn haben mich mit Steinen beworfen, und zwei Minuten später hat eine Maschinengewehrgarbe meine Fensterscheiben zersplittert, und ich mußte mich in eine Ecke ducken, bis der mexikanische Konsul, Salvador Elizondo, mit einem Passierschein kam und mir sagte, daß du dich für
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