Die Jahre mit Laura Diaz
Papa und Mama geheiratet?«
Die Spiegel waren ihre einzige Gesellschaft. Sie betrachtete sich und sah nicht allein zwei Lebensalter. Sie sah zwei Persönlichkeiten. Die vernünftige und die impulsive Laura, die lebensbejahende Laura und die resignierte. Sie nahm wahr, wie ihr Gewissen und ihr Verlangen auf einer Glasfläche miteinander kämpften, glatt wie jene Seen, die in den Schlachtszenen der russischen Filme zu sehen waren. Sie wäre mit Jorge Maura weggegangen; wenn er es von ihr verlangt hätte, wäre sie mit ihm gegangen, hätte alles verlassen.
Eines Abends setzte sie sich auf den kleinen, offenen Balkon des Hauses, der zur Avenida Sonora hinausging. Sie stellte noch vier Stühle hin und setzte sich schließlich in den fünften, den in der Mitte. Nach einer Weile näherte sich das Tantchen Maria de la O mit schlurfenden Schritten und nahm seufzend neben ihr Platz. Dann kehrte Lopez Greene von der Gewerkschaft zurück, blickte die beiden an und setzte sich zu Laura. Etwas später kamen die Jungen von der Straße, betrachteten die ungewohnte Szene und setzten sich auf die beiden links und rechts übriggebliebenen Stühle.
Nicht ihre Mutter hat sie gerufen, sagte sich Laura, uns rufen der Ort und die Stunde. Die Stadt Mexico an einem Abend des Jahres 1941, wenn die Schatten länger werden und es so aussieht, als schwebten die Vulkane strahlendweiß auf einem glühenden Wolkenbett, wenn der Leierkastenmann das Lied von den »Schwalben« spielt und sich die Plakate des letzten Wahlkampfs langsam in Fetzen auflösen, »ÂVILA CAMACHO/ALMAZÂN«. An diesem ersten Abend enthält die schweigende Wiederbegegnung der Familie alle zukünftigen Abende, Abende voller Staubwirbel und Abende voller Regen, der den ruhelosen Staub besänftigt und das Tal, in dem die Stadt liegt, die unschlüssig zwischen ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft innehält, mit Wohlgerüchen erfüllt. Der Leierkastenmann spielt »Du kleine noch ganz junge Liebe«, die Dienstmädchen hängen Wäsche auf den Dachterrassen auf und singen »Ich geh auf den Wegen der Tropen«, die jungen Leute auf der Straße tanzen, »Trommeln und noch mehr Trommeln, doch was kommt dann?«, die Fotingos und die freien Taxis, die Eishändler und die Verkäufer von Jïcama-Knollen mit Zitronensaft und Chilipulver kommen vorbei, der Süßigkeitenstand wird aufgemacht, mit Adams-Kaugummis und Mimi-Lutschern, Milchgelee und Süßkartoffeln, zugemacht wird der Zeitungsstand mit seinen alarmierenden Nachrichten über den Krieg, den die Alliierten gerade verlieren, und seinen Bildergeschichten über den Chamaco und den Pepin, seinen exotischen argentinischen Zeitschriften für Damen, »Leo-plan« und »El Hogar«, und Kinder, der »Billiken«. Mexikanische Filme mit Sara Garcia, den Brüdern Soler, Sofia Alvarez, Gloria Marin und Arturo de Cördova werden in den Kinos des Viertels angekündigt, die Jungen kaufen heimlich Zigaretten der Marken Alas, Faros und Delicados im Tabakladen an der Ecke, die Kinder spielen Himmel und Hölle, zielen mit Pfirsichkernen auf kleine, frisch ausgehobene Löcher, tauschen Kronkorken von Orange Crush und von Chaparrita-Traubensaft, die grünen Busse Roma-Piedad lassen sich auf Wettrennen mit den braunen und cremefarbenen Bussen Roma-Mérida ein, und der moos- und eukalyptusgrün aussehende Bosque de Chapultepec erhebt sich hinter den mexikanischen Villen im Bauhausstil und steigt bis zum symbolträchtigen Wunder des Schlosses an, zu dem Danton und Santiago jeden Nachmittag hinaufklettern, bevor sie heimkommen, als eroberten sie tatsächlich ein steil emporragendes, mysteriöses Schloß, zu dem man über abschüssige Pfade, asphaltierte Straßen und verschlungene Wege gelangt, die überraschend auf der großen Terrasse über der Stadt enden mit ihren auffliegenden Taubenschwärmen, im Schloß selbst die geheimnisumwitterten Säle mit dem Mobiliar aus dem neunzehnten Jahrhundert.
Die Jungen saßen neben Laura, Juan Francisco und der alten Tante, und sie waren dankbar, daß die Stadt diese Fülle von Bewegungen, Farben, Düften, Liedern und die Krone Mexicos für sie bereithielt, dieses Schloß, das sie alle daran erinnerte: Es gibt mehr, als wir uns in der Welt vorstellen können, es gibt viel mehr.
Jorge Maura war weggegangen, und etwas, das Laura bereitwillig »die Wirklichkeit« nannte, so, ausdrücklich in Anführungszeichen, tauchte aus dem romantischen Nebel auf. Zuerst ihr Mann, er erschien als erster wieder und sagte zu den
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