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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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Weise zur Erkenntnis wird. Warum kündigte das Selbstporträt ihres Sohns diese Gedanken an?
    Dann glichen sie einander, er und sie. Santiago sah sie an und akzeptierte es als etwas Normales, daß sie ihn von der Schwelle des Schlafzimmers aus betrachtete.
    Sie trennte die beiden Jungen nicht. Sie waren zu unterschiedlich. Santiago eignete sich alles an, Danton verwarf und überging, was ihm in die Quere kam und ihn störte, er konnte im Unterricht einen wichtigtuerischen Lehrer rettungslos lächerlich machen oder einen Mitschüler, der ihn ärgerte, in der Pause blutig schlagen. Trotzdem widersetzte sich Santiago den Regeln der Welt erfolgreicher, während Danton sie nach heftiger Abwehr schließlich akzeptierte. Danton stand bei den Demonstrationen um Unabhängigkeit in vorderster Reihe, nicht nur während der Pubertät: »Ich bin groß, das ist mein Leben, nicht eures, ich komme nach Hause, wann ich will, ich bestimme über meine Zeit.« Und er kehrte betrunken heim, prügelte sich, holte sich einen Tripper und bat schamrot um Geld; er war freier, doch auch abhängiger. Er offenbarte sich, um leichter zu kapitulieren.
    Santiago, noch in der Schule, fand eine Arbeit bei der Restaurierung der Fresken José Clémente Orozcos, danach schickte ihn Laura zu Frida und Diego, damit er dem Maler bei den Wandbildern half, die er im Nationalpalast begonnen hatte. Santiago übergab seiner Mutter gewissenhaft das verdiente Geld, wie ein Kind in einem Dickens-Roman, das in einer Gerberei ausgebeutet wird. Sie lachte und versprach, es allein für ihn aufzuheben.
    »Das ist unser Geheimnis.«
    »Hoffentlich ist es nicht das einzige«, antwortete Santiago und küßte seine Mutter ungestüm.
    »Du liebst ihn mehr, weil er dir verziehen hat«, erklärte Danton frech, und Laura konnte sich nicht beherrschen und gab ihm eine Ohrfeige.
    »Besser, ich halte den Mund«, sagte Danton.
    Laura Dîaz hatte ihre Leidenschaft für und mit Jorge  Maura verheimlicht, und nun beschloß sie, ihre Leidenschaft für und mit ihrem Sohn Santiago nicht zu verheimlichen, was wie eine unbewußte Kompensation für das Schweigen war, das die Liebe zu Maura umgeben hatte. Sie wollte nicht verleugnen, daß sie Santiago gegenüber Danton vorzog. Sie wußte, daß so etwas aus konventioneller Sicht nicht annehmbar war. »Entweder sind alle Söhne oder alle Stiefsöhne.« Es machte ihr nichts aus. Sie war bei ihm, sah ihm zu, wenn er zu Hause arbeitete, fortging, frühzeitig heimkam, ihr das Geld übergab und von seinen Plänen erzählte, und so entwickelte sich tatsächlich eine Komplizenschaft zwischen Mutter und Sohn. Er hatte auch den bevorzugten Vornamen, der bedeutete, daß man ihn an die erste Stelle setzen mußte – diesen Platz nahm Santiago nun im Leben Lauras ein: den ersten Platz. Nachdem sich die Liebe zu Jorge  Maura in Nichts aufgelöst hatte und Laura Dïaz vor ihrem eigenen Blick als einzigartige, unverwechselbare, unersetzliche, aber auch vergängliche und schließlich sterbliche Frau neu entstand, doch auch als die geliebte Frau, die leidenschaftliche Frau, die alles für einen Geliebten aufgeben würde, war es so, als würde die ganze Leidenschaft auf Santiago übertragen, nicht allein die Leidenschaft der Mutter für den Sohn, denn das war nur Liebe oder gar Bevorzugung, vielmehr wurde daraus auch die Leidenschaft des Jungen zu Leben und Schöpfung, die sich wiederum auch Laura zu eigen machte, unabhängig von sich selbst, frei von Eitelkeit vermittelte Santiago sie ihr.
    Santiago, ihr Sohn, der zweite Santiago, war das, was er tat: Er liebte, was er tat, vermittelte, was er tat, machte rasch Fortschritte, eignete sich an, was er auf Reproduktionen in Büchern und Zeitschriften sah oder an den mexikanischen Wandgemälden studierte. Er entdeckte den anderen, der in ihm war, zusammen mit seiner Mutter. Der Junge vibrierte in schöpferischen Vorahnungen, als er zunächst ein weißes Stück Papier und später eine Staffelei vor sich hatte, die ihm Laura zu seinem neunzehnten Geburtstag schenkte.
    Er übertrug seine Vibrationen, bannte seine Gefühle auf die Leinwand, die er zu einem Teil seiner selbst machte, wie er auch die Gefühle dessen in seinen Bann zog, der ihm beim Arbeiten zusah. Er war ein hingebungsvoller Mensch.
    Laura begann überschwenglich von den künstlerischen Vibrationen ihres Sohns zu zehren. Sie sah, wie er arbeitete und Fortschritte machte, ließ sich von seinen Vorahnungen anstecken, denn sie waren wie ein Fieber, das

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