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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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Fenstern, und daß es schien, als überraschte er sich selbst, als entdeckte er ständig einen anderen, der mit ihm zusammen war. Aber vielleicht dachte auch nur seine Mutter so etwas. Santiago war kein Kind mehr, er war etwas Neues. Vor dem Spiegel bestätigte sich Laura, daß sie manchmal die Frau von früher, manchmal aber auch eine Unbekannte war, eine andere. Ob sich ihr Sohn genauso sah? Bald würde sie vierundvierzig.
    Sie wagte es nicht einzutreten. Die offene Tür war eine Einladung, auf eine eifersüchtige, paradoxe Weise jedoch auch ein Verbot. Sieh mich an, aber komm nicht herein. Er zeichnete. Mit einem runden Spiegel, um sich aus den Augenwinkeln zu beobachten und das Gesicht Santiagos zu schaffen – nicht zu kopieren, nicht nachzugestalten –, ein Gesicht, das seine Mutter sofort erkannte und sich einprägte, als sie das Selbstporträt ihres Sohnes sah: Die Zeichnung wurde zum wahren Gesicht, sie offenbarte es und zwang Laura zu der Feststellung, daß sie fort gewesen und zurückgekehrt war, ohne ihre Kinder eigentlich je richtig angesehen zu haben. Mit vollem Recht blickten sie ihr nicht ins Gesicht, liefen umher und entwischten, wo ihre Mutter ja auch für sie keinen Blick übrig hatte. Sie warfen ihr eher vor, daß sie sie nicht richtig ansah, als daß sie die Familie im Stich gelassen hatte: Sie wollten von ihr gesehen werden, und weil sie ihnen keinen Blick gönnte, entdeckte sich Santiago zuerst in einem Spiegel, der ihm die Blicke ersetzte, die er so gern von seinen Eltern, von seinem Bruder und der Gesellschaft erhalten hätte, einer Gesellschaft, die sich jungen Männern gegenüber stets feindselig verhielt, die mit ihren Zukunftserwartungen und ihrem Unwissen in sie einzudringen versuchte. Ein Porträt und dann ein Selbstporträt.
    Und Danton entdeckte sich gewiß selbst in den leuchtenden Schaufenstern der Stadt.
    Sie war zurückgekehrt, als wären sie nicht da und fühlten sich nicht vergessen, benachteiligt, sehnten sich nicht danach, ihr das mitzuteilen, woran Santiago gerade arbeitete: an einem Porträt, auf dem sie ihn wiedererkennen konnte, wenn sie nicht da war, einem Porträt, das der Junge seiner Mutter hätte schicken können, wenn Laura, wie sie es sich gewünscht hatte, mit ihrem Spanier, ihrem »Hidalgo«, zusammengeblieben wäre.
    »Sieh dir das an, Mutter. Das bin ich. Komm nicht wieder.«
    Laura stellte sich vor, daß sie ihrem Sohn nie ein anderes Gesicht als das geben dürfte, das der Sohn ihr jetzt gab: die breite Stirn, bernsteinfarbene, weit auseinanderliegende Augen, die nicht so dunkel wie in Wirklichkeit waren, die geradlinige Nase, schmale, herausfordernde Lippen, glattes, wirres Haar von einem prächtigen, glänzenden Nußschalenbraun, das vibrierende Kinn – sogar auf dem Selbstporträt vibrierte das Kinn, das dem Gesicht entkommen wollte, wagemutig, aber allen Schlägen der Welt ausgesetzt war. Er war Santiago der Jüngere.
    Mehrere Bücher standen ringsum aufgeschlagen da. Van Gogh und Egon Schiele.
    »Wo hast du die her? Wer hat dir die gegeben?«
    »Ich habe sie aus der Deutschen Buchhandlung in der Colo-nia Hipödromo.«
    Laura wollte schon sagen, das liegt ihm im Blut, das deutsche Erbe ist bei ihm durchgebrochen, doch er kam ihr zuvor: »Mach dir keine Sorgen, das sind deutsche Juden, die nach Mexiko emigriert sind.«
    »Gerade rechtzeitig.«
    »Ja, Mama, gerade rechtzeitig.«
    Sie beschrieb Santiagos Gesichtszüge, die sein Selbstporträt ihr vorstellte und veranschaulichte, war sich aber nicht der dichten Linien und des düsteren Lichts bewußt, das es dem Betrachter erlaubte, in dieses auserwählte Gesicht einzudringen, als hätte der junge Künstler entdeckt, daß ein Gesicht den tragischen Zwang jedes Lebens, doch auch die mögliche Freiheit offenbarte, sich über Mißerfolge hinwegzusetzen. Laura betrachtete das Porträt ihres Sohns und dachte an Raquel Mendes-Alemâns Tragödie und an das Drama, das Jorge  Maura mit ihr verband. Gab es einen Unterschied zwischen dem düsteren, unseligen Schicksal Raquels, das sie mit dem ganzen jüdischen Volk teilte, und der dramatischen, ehrenhaften, aber im Grunde zwecklosen Reaktion des spanischen Hidalgos Jorge  Maura, der nach Havanna gefahren war, um Raquel zu retten, so wie er Pilar in Spanien hatte retten wollen? Santiago gab Laura mit seinem Selbstporträt eine Erklärung, eine Antwort, die sie beherzigen wollte. Man muß die Ereignisse mit Geduld aufnehmen. Man muß zulassen, daß das Leid auf seine

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