Die Jahre mit Laura Diaz
der anderen, immer aufs neue gerät man in Erstaunen.«
»Es gibt nichts Gutes außer der Arbeit«, sagte der junge Santiago oft, während er malte. »Der Künstler existiert nicht.«
»Du bist ein Künstler.« Laura hatte den Mut, ihm das zu sagen. »Dein Bruder ist käuflich. Darin liegt der Unterschied.«
Santiago lachte und hätte ihr beinahe vorgeworfen, auf vulgäre Art eindeutig zu sein.
»Mama, wie gut, daß wir uns unterscheiden, anstatt innerlich gespalten zu sein.«
Sie bereute ihre Äußerung. Sie wollte keine gehässigen oder herabsetzenden Vergleiche anstellen. Sie wollte ihm sagen: Es war wunderbar, dir zuzusehen, wie du aufgewachsen bist und dich verändert hast, wie du neues Leben hervorgebracht hast, ich betrachte dich beim Malen, und ich sehe dich so, als würdest du hundert Jahre leben, mein inniggeliebter Sohn, ich habe dir vom ersten Augenblick an zugehört, seitdem du wortlos gebeten hast: Mutter, Vater, Bruder, helft mir, das hervorzubringen, was ich im Inneren habe, erlaubt mir, mich darzustellen.
Laura erinnerte sich an ein anderes Gespräch der Brüder, dem sie unbemerkt zugehört hatte. Danton hatte damals zu Santiago gesagt: »Das Gute am Körper ist, daß er uns in jedem Augenblick befriedigen kann.« Und Santiago antwortete: »Er kann uns auch jeden Augenblick verraten.« – »Deshalb muß man das Vergnügen im Flug erwischen«, entgegnete Danton. Und Santiago: »Andere Freuden kosten Mühe, man muß sich für sie anstrengen.« Und die beiden wie aus einem Munde: »Sie entgehen uns.« Darauf folgte das gemeinsame Gelächter der Brüder.
Danton fürchtete sich vor nichts, außer vor Krankheit und Tod. So geht es vielen Männern. Sie sind zum Nahkampf in einem Schützengraben fähig, wären jedoch unfähig, die Schmerzen einer Entbindung zu ertragen. Danton suchte und fand Vorwände, das Elternhaus in der Avenida Sonora immer seltener zu besuchen. Lieber rief er an und fragte nach Santiago, obwohl der Telefone haßte, wie gut war es in seiner Kindheit gewesen, als es die zwei Systeme gab, Ericsson und Mexicana, und so schwierig war, eine Verbindung herzustellen. Er sah Laura an.
Dann folgten die Krankheiten immer schneller aufeinander, und die Ärzte konnten sich die zunehmende Schwäche des Jungen, seine geringe Widerstandskraft gegen Infektionen und die unbegreifliche Schädigung seines Immunsystems nicht erklären. Und was die Mediziner nicht sagten, das sagte Laura Dïaz: Mein Sohn muß sein Leben vollenden, darum kümmere ich mich, ich lasse mich von nichts aufhalten, nicht von der Krankheit, den wirkungslosen Medikamenten, den Ratschlägen der Ärzte, ich muß meinem Sohn alles geben, was mein Sohn bekommen müßte, wenn er hundert Jahre alt würde, ich gebe meinem Sohn Liebe, Freude und die Überzeugung, daß es ihm in seinen Lebensjahren an nichts gefehlt hat, nichts, nichts, nichts…
Nachts bewachte sie ihn, während er schlief, und sie fragte sich: Was kann ich von meinem Sohn, dem Künstler, bewahren, etwas, das sich über den Nachhall des Todes hinaus erhält? Und mit einem plötzlichen Schmerz in der Brust gab sie zu: daß nicht nur ihr Sohn alles haben sollte, was er verdiente, sondern auch sie, Laura Dîaz, wollte alles das, was der Sohn ihr geben konnte. Er hatte es nötig, etwas zu empfangen. Sie auch. Sie wollte geben. Er auch?
Als Santiago der Jüngere sich noch mühelos bewegen konnte, hatte er es wie alle Maler gern, von seinen Bildern zurückzutreten und sie aus einer gewissen Entfernung zu betrachten.
»Ich suche sie wie Geliebte, aber ich schaffe sie wie Gespenster«, erklärte der Junge und versuchte zu lachen.
Später antwortete sie schweigend auf diese Worte, als Santiago sich nicht mehr aus dem Bett rühren konnte und sie sich neben ihn legen mußte, um ihn zu trösten, wirklich an seiner Seite zu sein, ihn zu unterstützen. »Ich will dich nicht verlieren.«
Sie wollte nicht jenen Teil ihrer selbst verlieren, der ihr Sohn war.
»Erzähle mir von deinen Plänen, deinen Ideen.«
»Du redest, als würde ich hundert Jahre leben.«
»Hundert Jahre haben Platz in einem erfolgreichen Tag«, murmelte Laura, ohne sich vor der Banalität zu fürchten.
Santiago lachte und sagte nur: »Lohnt es sich, Erfolg zu haben?«
»Nein.« Sie erriet seine Gedanken. »Die Abwesenheit, das Schweigen sind manchmal besser.«
Laura wollte keine Liste aufstellen, was ein hochtalentierter junger Mann, der als Siebenundzwanzigjähriger im Sterben lag, alles nicht tun,
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