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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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kennenlernen oder genießen würde. Der junge Maler war wie ein Rahmen ohne Bild, und sie hätte gewünscht, ihn mit eigenen Erfahrungen und gemeinsamen Verheißungen zu füllen, wie gern hätte sie ihren Sohn mit nach Detroit genommen, um das Wandgemälde Diegos im Kunstinstitut zu sehen, es hätte ihr gefallen, gemeinsam mit ihm die legendären großen Museen zu besuchen, die Uffizien, den Louvre, das Mauritshuis, den Prado.
    Es hätte ihr gefallen…
    Mit dir zu schlafen, in dein Bett zu kommen, aus Nähe und Schlaf Formen, Visionen, Herausforderungen zu gewinnen, die eigene Kraft, die ich dir geben möchte, wenn ich dich berühre, wenn ich dir ins Ohr flüstere, die Schwäche deines Endes bedroht mich mehr als dich, und ich will dir deine Kraft beweisen, dir sagen, daß deine und meine Kraft voneinander abhängen, daß meine Zärtlichkeiten, Santiago, deine Zärtlichkeiten sind, die du nicht empfangen hast und nie empfangen wirst, sei darum mit meiner Nähe einverstanden, sei mit dem Körper deiner Mutter einverstanden, du sollst nichts tun, mein Sohn, ich habe dich geboren, dich in mir getragen, ich bin du, und du bist ich, was ich tue, ist das, was du tun würdest, deine Wärme ist meine Wärme, mein Körper ist dein Körper, tu nichts, ich tue es für dich, sag nichts, ich sage es für dich, vergiß diese Nacht, ich werde mich an deiner Stelle immer an sie erinnern.
    »Sohn, was brauchst du, was kann ich für dich tun?« »Nein, Mama, was kann ich für dich tun?« »Weißt du, ich möchte allen Ruhm und alle Tugenden der Welt rauben, um sie dir zu schenken.«
    »Danke. Das hast du schon getan, wußtest du das nicht?«
    Das würden sie einander nie sagen. Santiago liebte, als träumte er. Laura träumte, als liebte sie. Die Körper wurden wieder wie zu allem Anfang, zum Samen des einen im Leib des anderen. Sie wurde in ihm wiedergeboren. Er tötete sie in einer einzigen Nacht. Sie wollte an nichts denken, ließ Tausende flüchtiger und stürmischer, verschwundener Bilder im Geist an sich vorüberziehen, den Duft des Regens in Xalapa, den Inga-Baum in Catema-co, die juwelengeschmückte Göttin von El Zapotal, die blutigen Hände, die man im Fluß wusch, den Peitschenstrauch in der Wüste, die Araukarie in Veracruz, den sich brüllend in den Golf ergießenden Fluß, die fünf Stühle auf dem Balkon, Chapultepec gegenüber, die sechs Bestecke und die in Silberringen eingerollten Servietten, die Puppe Li Po, ihren Bruder Santiago, der tot im Meer versank, die abgeschnittenen Finger der Großmutter Côsi-ma, die arthritischen Finger Hildas, die versuchten, Klavier zu spielen, die mit Tinte bespritzten Finger der dichtenden Virginia, die ungeduldigen und eifrigen Finger Leticias, die einen Schnapperfisch in den Küchen von Catemaco, Veracruz und Xalapa zubereitete, die geschwollenen Füße des Tantchens, das Danzön auf dem Hauptplatz tanzte, die ausgebreiteten Arme Orlandos, der sie in der Hazienda aufforderte, einen Walzer mit ihr zu tanzen, die Liebe Jorges, die Liebe, die Liebe… »Danke. Wußtest du das nicht?« »Was noch? Noch etwas.« »Laß die Vogelkäfige nicht offen.«
    »Die Vögel würden zurückkommen. Es sind gute Tiere, die ihr Zuhause lieben.«
    »Aber die Katzen lieben sie nicht.«
    Er umarmte sie sehr kräftig. Sie hielt die Augen geöffnet, während sie ihren Sohn umschlang. Rundum sah sie die weißen Rahmen, die bereits fertigen Bilder lehnten aneinander wie schlafende Infanteristen, eine bunte Heerschar, eine Parade möglicher Blicke, die der Leinwand vorübergehend oder nie Leben geben konnten, so daß jedes Bild eine doppelte Existenz besaß, die, angesehen zu werden oder nicht.
    »Ich habe geträumt, wie es den Bildern ergeht, wenn die Museen schließen und sie die ganze Nacht allein bleiben.«
    Darin bestand das Thema Santiagos des Jüngeren: die nackten Paare, die einander anblicken und nicht berühren, als wären sie sich schamhaft bewußt, daß man ihnen zusah. Die Körper auf seinen Bildern waren nicht von klassischer Schönheit, vielmehr wirkten sie abgemagert und sogar dämonisch. Sie bedeuteten eine Versuchung, aber nicht die, sich zu vereinigen, sondern angesehen, in dem Augenblick überrascht zu werden, wenn sie ein Paar bilden wollten. Das war ihre Schönheit, die in blaßgrauen Tönen oder einem sehr zarten Rosa dargestellt wurde, in dem das Fleisch wie eine von Gott unvorhergesehene Störung hervortrat, als hätte sich Gott in der künstlerischen Welt Santiagos niemals jenen

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