Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
Vom Netzwerk:
breiten Stirn, daß man auf ihr Ruhm, Schöpferkraft und Schönheit lesen konnte? Nie, schwor sie sich selbst, nie wieder würde sie ein Kind vernachlässigen, das immer, immer die ganze Hoffnung, Schönheit, Liebe und Schöpferkraft dieser Welt in sich barg.
    Nun hatte diese verlorene Zeit plötzlich ein schuldhaftes Aussehen angenommen. Äußerte Santiago darum keine Dankbarkeit für ihre mütterliche Fürsorge? Weil sie zu spät kam? Wenn man Mutter war, hatte das nichts mit Dankbarkeit oder Anerkennung zu tun. Sie mußte sich ohne Erwartungen zufriedengeben, als genügte der Augenblick der Zärtlichkeit.
    Laura setzte sich mit ihrem Sohn vor die Stadtlandschaft, die inzwischen zu einem Wald aus wuchernden Pilzen wurde. Überall tauchten Wolkenkratzer auf, die alten »freien« Taxis wurden von neuen Wagen mit Taxametern abgelöst, die den Fahrgästen zunächst unverständlich und verdächtig schienen, an die Stelle der alten ramponierten Busse traten riesige neue, die schwarzen Rauch wie Fledermausdunst ausspuckten, und die gelben Straßenbahnen mit ihren gefirnißten Holzbänken und ihren »Fahrscheinblocks« wurden durch Trolleybusse ersetzt, die bedrohlich wie vorsintflutliche Tiere wirkten. Die Leute kehrten um vierzehn Uhr nicht mehr zum Essen nach Hause zurück und kamen auch nicht um siebzehn Uhr wieder zur Arbeit, man lebte mit der von den Gringos erfundenen neuen »durchgehenden Arbeitszeit«.
    Allmählich verschwanden die Drehorgelspieler, die Trödler, die Messerschärfer und Scherenschleifer. Nach und nach starben die Krämerläden aus, die Verkaufsbuden und Stände an jeder Ecke, und endlich schlössen sich die rivalisierenden Telefon-
    gesellschaften zusammen, Laura erinnerte sich an Jorge  (sie dachte sonst kaum noch an ihn) und verpaßte, was der auf dem Balkon sitzende Santiago sagte, der einen Morgenmantel trug und nackte Füße hatte: »Ich liebe dich, Stadt, meine Stadt, ich liebe dich, weil du es wagst, die Seele in deinem Körper zu zeigen, ich liebe dich, weil du mit deiner Haut denkst und mir gestattest, dich zu sehen, ohne dich wie die Konquistadoren zuvor erträumt zu haben, denn obwohl du ausgetrocknet bist, Lagunenstadt, hast du Mitgefühl und füllst meine Hände mit Wasser, wenn ich die Tränen zurückhalten muß, weil du mir nur erlaubst, dich zu beschreiben, wenn ich dich sehe, und dich nur zu sehen, wenn ich dich beschreibe, ich danke dir, daß du mich erfunden hast, damit ich dich aufs neue erfinden kann, du Stadt Mexico, ich danke dir, daß du mir erlaubst, ohne Gitarren, Farben und Schüsse mit dir zu sprechen, dich vielmehr mit dem Versprechen des Staubs und den Versprechen des Windes zu besingen, dem Versprechen, dich nicht zu vergessen, dem Versprechen, dich wiederzuerwecken, wenn ich auch selbst untergehe, dich zu beschreiben, dich im Dunkeln zu sehen, du Stadt Mexico, als Gegengabe für ein einziges Geschenk von dir: Sieh mich weiter, wenn ich nicht mehr hier bin, nicht mehr auf dem Balkon sitze, mit meiner Mutter neben mir…«
    »Zu wem sprichst du, Sohn?«
    Zu deinen wunderschönen Händen, Mama…
    … zur Kindheit, die meine zweite Mutter ist, zur Jugend, die es nur einmal gibt, zu den Nächten, die ich nicht mehr sehen werde, zu den Träumen, die ich euch hier hinterlasse, damit die Stadt sie für mich hütet, zur Stadt Mexico, die immer weiter auf mich warten wird…
    Ich liebe dich, Stadt, ich habe dich gern.
    Als Laura ihn ins Bett zurückbrachte, begriff sie, daß alles, was ihr Sohn der Welt sagte, auch an sie gerichtet war. Das mußte er nicht ausdrücklich erklären. Wenn man eine Liebe der freien Luft aussetzte, konnte sie vertrocknen, während sie im tiefen, feuchten Boden des alltäglichen Zusammenseins ohne Worte gelebt hatte. Das Schweigen zwischen den beiden konnte vielsagend sein.
    Ich will keinem auf die Nerven gehen, ich will niemandem zur Last fallen.
    Schweigen. Ruhe. Einsamkeit. Das vereint uns, dachte Laura, während sie Santiagos glühende Hand in ihren Händen hielt. Nichts bedeutet größere Achtung und Liebe, als wenn man gemeinsam schweigt, der eine für den anderen lebt, ohne es jemals zu sagen. Ohne daß man es sagen muß. Sie zu kennen, konnte ein Verrat an dieser tiefen Liebe sein, während sie sich durch ein Schweigen offenbarte, das sich mit einem Knäuel von Kom-plizenschaften, Vorahnungen und Dankesbekundungen vergleichen ließ.
    All das erlebten Laura und Santiago, während der Sohn im Sterben lag, und beide wußten, daß es so war,

Weitere Kostenlose Bücher