Die Jahre mit Laura Diaz
verfolgen ihn, bis man auch uns tötet.«
»Ich würde alles dafür geben, wenn ich noch einmal von vorn anfangen könnte«, bekannte Pilar traurig. »Damals war mir mein engstirniger politischer Kampfgeist wichtiger als die Zuneigung dreier wunderbarer Männer. Hoffentlich können sie es mir verzeihen.«
»Gewalt bringt gern neue Gewalt hervor«, sagte Laura lächelnd. »Zum Glück aber auch Liebe, gern neue Liebe. Meist haben wir am Ende gleich viel von beidem.« Sie nahm die Hand von Lourdes rechts von ihr und die Pilars links von ihr.
»Als ich von der Fotoausstellung über spanische Emigranten hörte, bin ich gleich aus Acapulco mit dem Flugzeug hergekommen und habe den leeren Bildrahmen Basilios gefunden.« Pilar blickte Laura an. »Aber wenn du nicht gekommen wärst, hätten Basilio und ich uns nie wiedergefunden.«
»Wann haben Sie Ihrem mexikanischen Liebhaber gesagt, daß Sie nicht mehr zu ihm zurückkehren?« fragte Santiago.
»Sobald ich den leeren Rahmen gesehen habe.«
»Das war mutig von Ihnen, Basilio hätte ja auch tot sein können.«
»Nein.« Pilar errötete. »Alle Bilder hatten ein Geburtsdatum und ein Todesdatum, wenn es das gab. Das Todesdatum fehlte bei Basilio. Soviel wußte ich.«
Die jungen Leute sagten nicht viel. Sie konzentrierten sich ganz auf Pilars und Basilios Geschichte. Santiago wechselte jedoch einen liebevollen Blick mit seiner Großmutter, und dort, in Laura Dïaz' Augen, entdeckte er etwas Wunderbares, etwas, wovon er Lourdes später erzählen wollte, er durfte es nicht vergessen. Laura Dïaz' Blick, ihre ganze Haltung erfaßte die Anwesenden und war seinerseits offen für sie, gab ihnen eine Stimme und forderte sie auf, einander anzusehen und in den Gedanken der anderen zu lesen, sich liebevoll zu offenbaren.
Sie war das Gleichgewicht der Welt.
Laura Dïaz hatte es gelernt zu lieben, ohne Erklärungen zu verlangen, genau wie sie gelernt hatte, die anderen mit ihrer Kamera und ihren Augen so zu sehen, wie diese sich selbst vielleicht nie sehen würden.
Nach dem Essen las sie ein kurzes Glückwunschschreiben Jorge Mauras vor, das er aus Lanzarote geschickt hatte. Laura hatte nicht widerstehen können und ihm von der Neuigkeit der wunderbaren, unerwarteten Wiederbegegnung von Pilar Mén-dez und Basilio Baltazar geschrieben.
Jorges Brief bestand lediglich aus der Frage: »Welcher Teil des Glücks kommt nicht von Gott?«
In der Silvesternacht heirateten Lourdes Alfaro und Santiago Dîaz-Pérez. Trauzeugen waren Laura Dïaz, Pilar Méndez und Basilio Baltazar.
Laura dachte an einen vierten Zeugen. Jorge Maura. Sie würden sich nie wiedersehen.
XXIII. Tlatelolco: 1968
»Niemand hat das Recht, eine Leiche zu identifizieren. Niemand hat das Recht, einen der Toten abzuholen. In der Stadt darf es morgen keine fünfhundert Trauerzüge geben. Werft sie in ein Massengrab. Niemand darf sie identifizieren.«
»Laßt sie verschwinden.«
Laura Dïaz fotografierte ihren Enkel Santiago in der Nacht des 2. Oktober 1968. Sie kam von der Calzada de la Estrella, weil sie sehen wollte, wie der Zug auf die Plaza de las Très Culturas strömte. Sie hatte alle Höhepunkte der Studentenbewegung fotografiert, von den ersten Demonstrationen bis zur immer massiveren Präsenz der Polizei und dem Bazookaschuß, der die Tür der Vorbereitungsschule auf Abitur und Studium zertrümmerte, bis zur Besetzung der Universitätsstadt durch die Armee, der blindwütigen Zerstörung von Labors und Bibliotheken, dem Protestmarsch der Universität mit Rektor Javier Barros Sierra an der Spitze, dem die übrigen Hochschulangehörigen folgten, und den Kundgebungen auf dem Zocalo, bei denen man dem Präsidenten Gustavo Dïaz Ordaz zurief: »Großmaul, komm raus auf den Balkon«, und schließlich dem Schweigemarsch mit hunderttausend geknebelten Bürgern.
Laura nahm die Diskussionsabende mit Santiago, Lourdes und dem Dutzend oder mehr junger Männern und Frauen auf, die sich leidenschaftlich an den Ereignissen beteiligten. Das zweijährige Kind, Santiago IV., schlief in dem Zimmer, das seine Urgroßmutter für ihn in der Wohnung an der Plaza Rio de Janeiro eingerichtet hatte, indem sie alte Bildarchive wegräumte und sich von allerlei Unbrauchbarem trennte, auch wenn für sie damit in Wirklichkeit kostbare Erinnerungen verbunden waren. Doch Laura sagte zu Lourdes, mit siebzig müsse man das, was der Erinnerung würdig sei, sowieso im Gedächtnis bewahren – das und nichts anderes, sonst breche man
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