Die Jahre mit Laura Diaz
unter der Bürde der wahllos angehäuften Vergangenheit zusammen.
Die Vergangenheit hatte viele Gestalten. Für Laura war sie ein Ozean aus Papier.
War ein Foto etwas anderes als ein in Ewigkeit verwandelter Augenblick? Der Fluß der Zeit ließ sich nicht aufhalten, und wollte man sie insgesamt bewahren, würde man unweigerlich dem Wahnsinn verfallen. Die Zeit, die unter Sonne und Sternen vergeht, verrann auch in einer unbewohnten Welt weiter, einer Mondlandschaft, mit und ohne uns. Die »menschliche« Zeit bedeutete, den Augenblick zu privilegieren, ihm das Gewicht der Ewigkeit zu geben. Das alles drückte auch das Gemälde ihres Sohns aus: Wir sind nicht gefallen, sondern steigen auf.
Wehmütig blätterte Laura die Kontaktbögen durch, warf weg, was sie für entbehrlich hielt, um das Zimmer für ihren Urenkel frei zu machen. »Streichen wir es blau oder rosa an?« fragte Lourdes lachend, und Laura stimmte in das Lachen ein; ob das Baby ein Mädchen oder ein Junge wurde, auf jeden Fall mußte es in einer Wiege schlafen, die von Fotogerüchen eingehüllt wurde, die Wände rochen nach feuchten Filmen, Entwicklerbad und Abzügen, die wie frischgewaschene Kleidung an Holzklammern hingen, die ebensogut zu einem Wäscheständer gepaßt hätten.
Sie sah die wachsende Begeisterung ihres Enkels, und sie hätte ihn gern gewarnt, laß dich nicht von der Stimmung hinreißen, in Mexiko wird derjenige, der an etwas glaubt und seinen Glauben auf der Straße bekundet, sehr schnell mit Enttäuschung bestraft. »Was man uns in der Schule beigebracht hat«, erklärte Santiago wieder einmal seinen Kameraden, die zwischen siebzehn und fünfundzwanzig Jahren alt waren, Brünetten und Blonden, »wie Mexiko ist, ein Land in den Farben des Regen-bogens«, sagte ein hübsches Mädchen mit tiefdunkler Gesichtsfarbe und leuchtendgrünen Augen, dessen Haarmähne bis zur Taille reichte, »ein Land, das auf den Knien liegt und auf die Füße gestellt werden muß«, sagte ein großer braunhäutiger Junge mit winzigen Augen, »ein demokratisches Land«, sagte ein blasser Kleiner, der muskulös und unerschütterlich wirkte, aber eine Brille trug, die ihm ständig von der Nase rutschte, »ein Land, das sich der großen Rebellion von Berkeley, Tokio und Paris anschließt, ein Land, in dem es von nun an verboten ist zu verbieten und in dem die Phantasie an die Macht kommen wird«, sagte ein blonder, typisch spanisch wirkender Kerl mit Vollbart und eindringlichem Blick, »ein Land, in dem wir einander nicht vergessen«, sagte ein anderer, indianisch aussehender, ernster Junge, der sich hinter dicken Brillengläsern versteckte, »ein Land, in dem wir uns lieben können«, sagte Lourdes, »ein Land ohne Ausbeuter«, sagte Santiago, wir demonstrieren nur für das auf der Straße, was man uns in der Schule beigebracht hat, man hat uns im Geist von Ideen erzogen, die Demokratie, Gerechtigkeit, Freiheit, Revolution heißen.« – »Sie haben von uns verlangt, an all das zu glauben, Dona Laura.« – »Kannst du dir einen Schüler oder Lehrer vorstellen, Großmutter, der Diktatur, Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Reaktion verteidigt?« – »Sie haben riskiert, daß wir ihnen ins Gesicht blicken«, sagte der große Braunhäutige, »und daß wir Forderungen stellen«, sagte der mit der dicken Brille, »hört zu, wo gibt es das wirklich, was sie uns in der Schule beigebracht haben?« – »Hört zu«, fiel die Dunkelhäutige mit den grünen Augen in den Chor ein, »was glauben sie denn, wen sie hinters Licht führen können?« – »Paßt auf«, sagte der Bärtige, »seht uns nur an, wir sind Millionen, dreißig Millionen Mexikaner, die jünger als fünfundzwanzig sind.« – »Glauben die denn, daß sie uns weiter betrügen können«, rief der energische Große mit den winzigen Augen und sprang auf, »wo ist die Demokratie, besteht sie in den von der PRI organisierten Wahlfarcen, wenn die Urnen schon im voraus vollgestopft werden?« – »Wo ist die Gerechtigkeit«, fuhr Santiago fort, »in einem Land, in dem sechzig Leute mehr Geld haben als sechzig Millionen?« – »Wo gibt es Freiheit?« fragte die Langhaarige. »In den Gewerkschaften, die von korrupten Bonzen geknebelt werden? In den Zeitungen, die an die Regierung verkauft sind?« setzte Laura hinzu. »Im Fernsehen, das uns die Wahrheit verheimlicht?« – »Wo ist die Revolution?« schloß der blasse Kleine. »In den vergoldeten Namen Villas und Zapatas, die im Abgeordnetenhaus eingemeißelt
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